Das Ziel ist der Weg
»Lieblingspilgerinnen« aus der Schweiz. Welche Freude! Auf einer Wiese mittags feiern wir unser Wiedersehen mit einem großen gemeinschaftlichen Picknick. Da stören uns später nicht einmal mehr die Hunde, die bösartig bellen, wenn wir an ihren Gehöften vorbeilaufen.
»Eh, attendez! Vous devez venir!« — »Eh, wartet! Ihr müsst mitkommen!« Ein älterer Mann ist aus einem Hof inmitten eines Weindorfes getreten. Wir schauen zuerst uns und dann ihn fragend an. Was geschieht jetzt? Wenig später sitzen wir in der gemütlichen Probierstube von Raymont Barlet, Winzer und Herr über hervorragende savoyardische Weißweine. Schnell stehen ein paar eiskalte Weinflaschen vor uns, an denen außen das Kondenswasser herabperlt. Zwischen leisen Öffnungsgeräuschen einiger Korken und dem Knarzen seines Korkenziehers erzählt er uns, dass er es sich zur Aufgabe gemacht hat, keinen Pilger an seinem »Pilgerbrunnen« vorbeigehen zu lassen. Ein paar Weißweine später kommt der örtliche Pfarrer hinzu, um mitzuprobieren. Er hatte uns vom Friedhof aus bei einer Beerdigung einige Kilometer vor dem Ort gesehen und uns dem Winzer angekündigt — ich habe die Vermutung, dass der Pfarrer häufiger an solchen Weinproben teilnimmt.
Wieder ein Moment des Abschieds: Ingrid und Anita wollen wegen ihrer knapp bemessenen Zeit von Yenne aus ein, zwei Tagesetappen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen und den morgigen steilen Anstieg umgehen. »Wenn wir uns das dritte Mal begegnen, schicke ich euch eine Postkarte aus Santiago«, verspreche ich. Bisher habe ich noch nicht einmal eine Adresse. Meine Ahnung sagt mir, dass dies nicht das letzte Mal ist, dass ich sie sehen werde.
Yenne liegt direkt hinter mir. Zweite Bergwertung der ersten Kategorie: 600 Höhenmeter steil hinauf auf den Verbindungsweg zwischen den Tälern von Rhône und Isère. Nach fast vier Wochen ununterbrochenem Gehen hat sich mein Körper komplett umgestellt. Ich laufe aufrecht, den Rucksack spüre ich kaum. Mein Kreislauf ist der eines Ausdauersportlers geworden, die Muskeln meiner Beine arbeiten stetig und kräftig. Meine Füße suchen ihren Kontakt mit dem Boden selbst, automatisch, als ob sie Augen an den Sohlen hätten und die beste Stelle fänden, um sich der Erde anzupassen und ohne überflüssigen Energieverlust wieder abzudrücken. Der Pilgerstab ist ein Teil meines Körpers geworden. Er gibt den Schrittrhythmus vor, findet seinen Weg in meine rechte oder linke Hand, fängt mein Körpergewicht ab oder hilft den Beinen, sich abzustoßen, je nachdem, was der Untergrund, die Wegführung und mein Gleichgewicht von ihm verlangen. Irgendwann in den letzten Wochen ist mir ein »innerer Geschwindigkeitsmesser« zugewachsen. Automatisch fühle und weiß ich, welchen Schnitt ich laufe: vier, viereinhalb, fünf, fünfeinhalb oder sechs Kilometer in der Stunde. Ich staune, wie es ist, austrainiert zu sein, mich auf meinen Körper zu verlassen, ohne Gedanken in mich hineinzufühlen, dem Wechselspiel des Atems, der Herzschläge, der Muskelkontraktionen still zuzuhören.
»So schlecht geht es dem Pilger gar nicht!« Hier im Isèretal scheint sich jeder Ort darauf auszurichten, Pilger hervorragend mit Lebensmitteln zu versorgen. Überall kleine Märkte, auf denen ein Blinder allein mit seinem Geruchssinn einkaufen könnte, so eindringlich und typisch riechen frisches Obst, Gemüse, Kräuter, Würste, Pasteten, Brot und natürlich Käse, Käse, Käse. »Luxuspilgern«, denke ich, als mir kurz nach Saint-Romain-de-Surieu in einer Käserei die Bedienung einen frisch geaschten Käse über die Theke reicht: »Vive la France!«
Ich liebe es, in den Abend zu laufen, wenn die Sonne sich dem Horizont zuneigt. Vor nicht ganz zwei Stunden habe ich Chavanay verlassen. Ein Bier nach der Überquerung der Rhône, dann steil an der alten Kapelle hinauf auf das Hochplateau. Hier oben ist es idyllisch. Ein leichter Wind geht mir durch die Haare, die warmen Strahlen der Abendsonne dringen ein in mein Gesicht. Pfirsiche und Minze duften intensiv. Mein Herz ist leicht und frei. Fehlt nur noch ein Glas Weißwein. Auch das finde ich heute noch...
Auf der Trasse der alten Eisenbahnstrecke zum Tracol. Sehr viel langweiliger geht es nicht: links und rechts ein Damm, darüber immer wieder eine kleine Brücke. Schon seit einigen Stunden hat sich der Himmel grau bedeckt, es nieselt leicht. Kurz vor Bourg-Argental bin ich durch ein Gewitter gelaufen, kein Ort zum Unterstellen, die Blitze
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