Das Ziel ist der Weg
schmerzlicher Momente, wirkt jenes Selbstbild unwirklich, das im Alltag Erfolg und materielles Glück sichern soll. Das zufriedene Erleben des Moments wird zu einer Grunderfahrung. Dadurch lösen sich falsche Vorstellungen wie von selbst auf: Vorstellungen von Ich-Idealen, die man nicht befriedigen kann; Vorstellungen von einem fremdbestimmten Leben, das letztlich nicht das eigene ist. Pilger vergessen und verlieren sich im Rhythmus des Weges, um sich wiederzugewinnen. Jedoch: Sie gewinnen sich auf eine ihnen nicht vorhersehbare Weise wieder. Andere, ihnen bisher unbekannte Teile ihrer Seele fordern, in ein ganzheitlicheres Leben mit hineingenommen zu werden. Oder wie Martin Buber schreibt: »Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt.« Seelenwandel ist Wandlung jenseits des eigenen Ich- Bezirks.
Dieser ureigene Rhythmus, die Nähe zu sich selbst, weist Pilgern den ganz eigenen Weg, weist hinaus aus der drängenden seelischen Not, lässt sie Vertrauen wiedergewinnen zu ihrer eigenen Seelenmelodie, deren Noten ein Anderer, ein Größerer als sie gesetzt hat, lässt sie Orientierung in ihrer Mitte finden. Ein instinktives »Wissen-Was« nach zum Teil jahrelanger reflexiver Suche nach dem »Wissen-Wie«. Dieser unmittelbaren Erfahrung geht oftmals ein mühseliger Weg voraus. Innere und äußere Schwierigkeiten werden konkreter, wenn die Aufbrucheuphorie verflogen ist. Pilger lernen durchzuhalten, Gefahren zu bestehen und dann Schritt für Schritt zu realisieren, dass das, was Pilgern scheinbar widerfährt, nicht außerhalb, sondern in ihnen ist, dass alles eine Einheit ist und zu ihnen gehört. Ihre Seele hat sich in dieser Erkenntnis gewandelt.
Der zweite große Wegabschnitt bis nach Saint-Jean-Pied-de-Port steht im Zeichen dieser Seelenwandlung. Nach dem Aufbruch und der Loslösung aus Alltagsstrukturen bis Le Puy sorgen die eindrückliche landschaftliche Schönheit, die kontemplative Aura der wenigen Mitpilger und die gute, unaufdringliche Organisation des Weges für eine relative Freiheit von äußeren Bedingungen. Vier Wochen weltliche Unbeschwertheit, die umso tiefer die Seele berühren. Die vielen Kilometer zwischen Le Puy und Saint-Jean sind der große seelische Schritt, der zu gehen ist.
Gefahren
Von Le Puy nach Conques
»Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«
Friedrich Hölderlin
Gefahren der Pilgerfahrt — beide Worte sind in ihrer Bedeutung tief verbunden: Das »Fahren« — das Streben nach einem Ziel — und die »Gefahr« haben denselben mittelhochdeutschen Wortstamm. Die Jakobuspilgerfahrt war im Mittelalter so gefährlich, dass Pilger bei ihrem Aufbruch ihr Testament machten. Räuber, mordlustige Fährleute oder schlicht Krankheiten ließen viele Pilger ihr Grab in der Ferne finden.
Lebensgefährlich ist der moderne Jakobsweg nicht mehr. Für Suchende, für diejenigen, die ihre Seele zur Wandlung drängt, liegen die »Gefahren« des Jakobsweges eher in den Momenten, in denen sie nahe daran sind aufzugeben. Wandlung geschieht gerade dadurch, dass Pilger diese »Gefahrenmomente« durchlaufen, dass sie durchhalten, dass sie weitergehen: In der Grenzerfahrung öffnen sich Schranken zu bislang unbekannten Seelenanteilen, die dem Bewusstsein so erstmals zugänglich werden. Die »Gefahren« für moderne Pilger sind daher neben den äußeren Unwägbarkeiten wie Unwetter, Verirren und Schmerzen vor allem die inneren Zweifel aus Unentschlossenheit, Lustlosigkeit und Angst vor Veränderung.
Pilger sind diesen Prüfungen unentwegt ausgesetzt, diese fordern sie nach dem Erreichen des ersten großen Etappenziels jedoch besonders: Die Hochstimmung des Aufbruchs ist verflogen, die sie euphorisch über manchen kritischen Moment hinweggetragen hatte. Pilgern schien »machbar« geworden. Und noch hat sich die Routine nicht eingestellt, aus der heraus die inneren und äußeren Gefahren einschätzbar und leichter zu bewältigen wären. Oftmals entzünden sich an diesen Funken äußerer Wegbewältigungsproblematik Feuer innerer Seelenarbeit. Plötzlich brechen Dämme, und die Grundkrise fordert ihren Raum.
Da trifft beides zusammen: die äußere Schwierigkeit und die innere Krise. Sie addieren sich zu einer Belastung, die der Einzelne nur im Vertrauen auf das Göttliche weitertragen kann. Aus diesem Vertrauen erwachsen Kräfte, die zugleich Wege weisen aus der momentanen äußeren wie inneren Ausweglosigkeit. Seelischer Wandel erhält seine Impulse häufig in der
Weitere Kostenlose Bücher