Das Ziel ist der Weg
Bewältigung von Grenzsituationen, in denen Pilger intuitiv erfahren, dass sie über sich selbst hinauswachsen können. Wer in der unerträglichen Situation weiterläuft, erfährt ganz praktisch, dass seine tatsächlichen Grenzen weit hinter den angenommenen Grenzen liegen. Damit wird plötzlich klar, dass die Beschränkungen im Eigenbild von Pilgern vielleicht grundsätzlich neu bewertet werden müssen. Im Durchhalten erfahren sie so eine neue Sichtweise auf ihren persönlichen Schmerz. Sie lernen, diesen anzunehmen, einer Wirklichkeit ein- und unterzuordnen, die ihr bisheriges Erleben übersteigt. Wer weiter geht, als er es sich zugetraut hat, vertraut darauf, dass er die Unsicherheiten der Zukunft bewältigen wird. Er kann sich dessen nicht mehr sicher sein, er geht ins Ungewisse. Er gibt die Kontrolle ab an etwas, das größer ist als er. Dies ist der wirkliche Aufbruch von Pilgern in ein neues Vertrauen zum Göttlichen und zu sich selbst. Deshalb lautet der Gruß unter Pilgern seit dem Mittelalter: »Ultreïa!« — »Weiter! Immer weiter!«
In Momenten der Krise erfahren Pilger häufig Hilfe von Gleichgesinnten: Gefährten in der Gefahr. Sie erkennen und erfahren, dass sie als Menschen nicht alleine unterwegs sind. Sie lernen gezwungenermaßen wieder Hilfe anzunehmen — sie benötigen sie so dringend, dass sie diese nicht ablehnen können. Dies fällt Pilgern am schwersten, die den Leitsatz der Konkurrenz in der modernen Leistungsgesellschaft fraglos verinnerlicht haben: Schwäche kann man sich nicht leisten, man muss immer alles alleine bewältigen. In ihrem Angewiesensein auf andere wird Pilgern deutlich, welchen Stellenwert brüderliche Unterstützung in der Not hat. Und sie werden sie freien Herzens anderen gewähren, wenn diese sie benötigen. Zum Menschsein gehören Momente der Krise — aber auch das Eingebundensein in die menschliche Gemeinschaft.
Wen eine innere Frage auf den Jakobsweg gerufen hat, für wen Wandlung wirklich notwendig ist, der geht in irgendeiner Weise durch die »Gefahren« der Pilgerschaft hindurch. Oftmals erfahren Pilger erst in diesen Momenten tiefe Veränderung und erreichen daraufhin Santiago als andere. Die heilige Katharina von Siena schreibt resolut im 14. Jahrhundert: »Das Beginnen wird nicht belohnt, einzig und allein das Durchhalten.«
Der Jakobsweg von Le Puy nach Conques könnte weder in landschaftlicher noch in kultureller Hinsicht eindrucksvoller und reicher sein. Für viele Pilger stellt dieser Streckenabschnitt einen Höhepunkt dar. Schon das Gefühl ist erhebend nun wirklich auf einer der vier »mittelalterlichen Hauptschlagadern« des Jakobsweges nach Santiago zu wandern. Pilgerzüge weit aus der Vergangenheit sind scheinbar zum Greifen nah. Die nur spärlich besiedelte Landschaft des Massif Central und die vielen Zeugnisse mittelalterlicher Pilgerschaft versetzen die heutigen Pilger in eine andere Zeit: Pilgern im Mittelalter kann nicht viel anders gewesen sein.
Der Weg führt aus Le Puy auf der im Jahr 1314 so benannten Rue Saint-Jacques hinaus. Nach dem Aufstieg auf die Hochfläche der Berge des Velay lassen Pilger die vulkanische Landschaft Le Puys hinter sich. Vorbei an der Burg von Saint-Privat-d’Allier steigen sie steil ins Allier-Tal hinab, queren den Fluss bei Monistrol-d’Allier und wandern in der Ginsterlandschaft auf der anderen Seite des Tals noch steiler wieder aufwärts. Sie sind in das Bergland der Margeride mit ihrer Einsamkeit der Wälder und ihrer wilden Schönheit gelangt. Nach Saugues gewinnt der Weg langsam an Höhe bis zum Pass des heiligen Rochus. Der Pass liegt immerhin auf 1300 Metern über dem Meeresspiegel und war im Mittelalter der Ort für ein Pilgerhospiz der Templer, welche die Jakobuspilger nach den Gefahren der Margeride beherbergten. Schnell wird klar, woher die nahe gelegene »Domaine du Sauvage«, das »Gut in der Wildnis«, ihren Namen hat. Auf diesem Weg begegnen den Pilgern nun auch erstmals Hinterlassenschaften des Hundertjährigen Krieges im 14./15. Jahrhundert zwischen Frankreich und England. Über Saint-Alban-sur-Limagnole gelangen Pilger nach Aumont-Aubrac und damit in die eindrucksvolle Leere des Berglands des Aubrac, der am wenigsten besiedelten Gegend Frankreichs. Anfänglich liegen dort vereinzelt Felsbrocken, wie von Riesenhand achtlos fallen gelassen, dann bietet die archaisch anmutende Hochfläche dem Auge keinen Halt mehr. An der Passhöhe liegt das Pilgerhospiz Aubrac, um das Jahr 1120 für die
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