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Das Ziel ist der Weg

Das Ziel ist der Weg

Titel: Das Ziel ist der Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Hagenmeyer
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Wallfahrer erbaut. Ein flandrischer Graf war der Sage nach auf seinem Jakobsweg zweimal an dieser Stelle in Lebensgefahr geraten — auf dem Hinweg wollten Räuber ihm ans Leben, auf dem Rückweg verirrte er sich in einem Schneesturm. Er gelobte, ein Herbergskloster an diesem gefährlichen Ort zu stiften, wenn er überleben sollte.
    Nachdem die Pilger den »Aligot« genossen haben — die aus Frischkäse und Kartoffelpüree hergestellte Spezialität des Aubrac — , steigen sie hinab ins Tal des Flusses Lot, dessen Lauf sie noch lange folgen werden. In Saint-Côme-d’Olt mit seinem gedrehten Kirchturm überqueren sie den Lot und gelangen durch Eichenwälder zur in rötlichem Stein erbauten Kirche Saint-Hilarian-de-Perse in ihrer ganzen romanischen Pracht. Sie gehen über die malerische gotische Brücke in Espalion, wie schon unzählige Jakobuspilger vor ihnen. Der romanische Altar in der hoch gelegenen Kapelle der Kirche Saint-Pierre-de-Bessuejouls, das mittelalterliche Städtchen Estaing liegen hinter ihnen, wenn sie von Höhenwegen nach Conques absteigen. Die Pilger treten unter dem Achtung gebietenden Tympanon in die hochromanische Pilgerbasilika, die nicht nur romanisch, sondern tatsächlich auch hoch ist: Um Platz zu schaffen für die mittelalterlichen Pilgermassen, die nach Santiago und zu den in Conques befindlichen Reliquien der heiligen Fides strömten, wurden Hochemporen in die Architektur der Kirche eingeplant. Nach der allabendlichen Pilgermesse in der dunklen Basilika begeben sich die Pilger im mittelalterlichen Pilgerhospiz, das heute von Mönchen des Prämonstratenserordens geführt wird zur Ruhe: Sie haben das Massif Central überquert und die Gefahren der Margeride, des Aubrac und des Lot-Tals überstanden.

    Die Nacht war unruhig. Mein rechter kleiner Zeh pocht mit einer Intensität in meinen Schlaf, dass selbst die meditative Aura des Franziskanerinnenklosters mich nicht endgültig zur Ruhe bringt. Wie geht es morgen weiter? Wie wird es sein, vielen Pilgern zu begegnen? GR 65 — la grande randonée. Wanderstrecke/Pilgerstrecke? Wie wird das mit den Unterkünften? »Die Karten werden neu gemischt...«

    Es ist früh, 6:30 Uhr, Kaffee, Baguette. 7:00 Uhr Pilgermesse mit dem Bischof von Le Puy in der Kathedrale. Noch müde und doch unterschwellig aufgeregt, empfangt eine kleine Gruppe von ungefähr 20 Pilgern den Pilgersegen unter den Augen der schwarzen Madonna. Verstohlen mustere ich durch den Weihrauch meine Mitpilger. Sie atmen Aufbruchstimmung. Erst später werde ich erfahren, dass die meisten »nur« die landschaftlich schöne Strecke bis Conques gehen werden. Ein paar wandern noch darüber hinaus bis Moissac, zwei vielleicht nach Saint-Jean-Pied-de-Port, höchstens ein weiterer läuft durch nach Santiago.

    Ich bin der Erste auf dem Weg, suche die gewohnte Einsamkeit. Die Treppe vom Altar hinunter durch den Torbogen der Kathedrale. Die Stadt liegt noch im Schlaf, gerade macht die erste Boulangerie auf. Aus ihren soeben geöffneten Türen erobert der Duft von frischem Brot die Straße. Sauerstoffreiche Luft der Frühe in den Lungen. Kühle auf den blanken Unterarmen. Genau richtig für den 300-Höhenmeter-Anstieg hinter Le Puy. Die Sonne scheint warm auf meinen Rücken, ein gutes Omen, endlich kein Regen mehr. Wann Olivier wohl auf die Strecke geht? Glück durchströmt mich, als ich die Hochfläche erreiche. Geht doch, kein Problem. Es hat sich nichts geändert. Keine Übervölkerung des Weges, kein Mensch zu sehen. Schönes Wetter und innere Ruhe, der Weg schnurgerade und friedlich vor mir — perfekt.

    Ende. Aus. Vorbei. Es geht nicht mehr. Bei La Roche, gerade mal 5 Kilometer hinter Le Puy: Der Schmerz aus dem rechten Fuß ist unerträglich. Durch die Feuchtigkeit der vergangenen Tage haben sich Bakterien in das Nagelbett des rechten kleinen Zehennagels vorgearbeitet, es ist entzündet. Heftiger Schmerz von einer Sekunde auf die andere. Bei jedem Schritt schlägt mir jemand einen Zimmermannsnagel in den rechten Fuß. So plötzlich. Völlig unerwartet: Ich bin in eine unsichtbare Mauer gerannt. Mir laufen Tränen über das Gesicht, Tränen der Wut, Tränen der Enttäuschung. 1000 Kilometer hinter mir. So viel Schwierigkeiten und Mühsal. Fünf Tage Sintflut in der Schweiz: alles überstanden. Und jetzt, wo ich auf der »sicheren Route« bin, jetzt, wo es einfacher wird, jetzt, genau jetzt erwischt es mich. Ich kann nicht mehr. Leere. Ich versuche zu gehen — ich halte das nicht noch

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