Das Ziel ist der Weg
weitere 15 Kilometer durch! Niemals! Die Tagesetappe ist dahin — der ganze Weg! Wenn das nicht abheilt? Wenn ich den Schmerz nicht in den Griff kriege? »Nach tausend Kilometern musste unser Pilger leider abbrechen.« »Santiago, ich komme...« — Wer kommt? Wohin?
Auf der Landstraße nach Bains, ich bin vom Weg weggegangen. Der einzige Gedanke: ein Arzt. Den gibt es laut Pilgerführer als Nächstes in Bains. Fünf Kilometer auf der Landstraße in den Abgasen ratternder französischer Kleinlaster auf dem Weg zum Wochenmarkt. Einen Schritt nach dem anderen, Feuer im rechten Schuh. Ein Arzt. Schritt. Ein Arzt. Schritt. Ein Arzt.
Ich will nicht mehr, wirklich nicht. Ein Taxi nach Le Puy, dann der Zug nach Paris, Paris-Stuttgart, das war’s. Okay. Was nicht geht, geht eben nicht. — Nach dem Arzt unter Schmerzen durch den Ortskern — Dorfkern wäre wohl besser — von Bains, zur Apotheke. Die liegt natürlich genau am anderen Ende.
Woher kommt auf einmal die Ruhe? Der Fuß brennt zwar immer noch, aber ich fühle innere Ruhe. Und eine Stimme, die mit mir am imaginären Taxi vorbeiläuft, mich in das nächste Hotel flüstert, mich in ein Bett legt und sagt: »Schlaf dich doch erst mal aus. Wenn es morgen nicht geht, kannst du immer noch abbrechen.« Das war gestern um die Mittagszeit. Heute bin ich gegen 8:00 Uhr aufgewacht. Ich laufe wieder. Wahrscheinlich war ich nur völlig erschöpft. Körperlich, geistig, seelisch. Und hätte aufgegeben, es war knapp.
Saint-Privat im Eiltempo. Efeu. Ginster. Neu: andere Pilger. Steil hinunter ins Alliertal. Die Schmerzen halten sich in Grenzen, die entzündungshemmende Salbe scheint zu wirken. Monistrol. Die Stahlbrücke in Türkis über den Fluss. Aufstieg auf der anderen Seite des Alliers — die Karte sagt 600 Höhenmeter. Warum hält der Fuß so gut? Ich erhöhe das Tempo, Fünferschnitt. Nicht der Fuß ist es, der mich behindert, es ist etwas Inneres. So geht es nicht weiter. Vor lauter erstarrender Vorwegnahme der Meinung anderer sehe ich meinen Weg nicht, lasse mich als Geisel von Erwartungen und Wünschen anderer nehmen. Bleib ruhig. Es tut zwar weh, aber es ist auszuhalten.
»Mais Uli, pourquoi viens-tu de derrière? J’ai pensé que tu étais déjà à Saint-Jaques!« Warum ich von hinten komme und noch lange nicht in Santiago bin, kann ich Olivier so schnell nicht erklären. Der freundliche Franzose von der Insel La Réunion, den ich in Le Puy in der Pizzeria getroffen hatte und der seinen Weg dort begonnen hat — er läuft am Ende einer Gruppe mit weiteren fünf Pilgern: Paulette, Marie-Thérèse, Martine, Nicolas, Philippe. Gutes Grundgefühl mit ihnen. Olivier schaut sich meinen Fuß und meine Salbe an und meint: »Da habe ich etwas Besseres.« Von da an laufe ich in Begleitung einer Gruppe aus der französischen Stadt Mirepoix nach Conques, die — ganz französisch — ihre eigene »chef-de-cuisine« Nicou hat, welche an strategisch günstigen Plätzen mit Auto und Anhänger das große Picknick vorbereitet. Und vor allem laufe ich mit einem Arzt von der Insel La Reunion, der sich um meinen Fuß kümmert, bis er weitestgehend abgeheilt ist. Ich kann es nicht fassen. Gestern habe ich fast aufgegeben, heute dieses Glück! Die Pilgerweisheit bewahrheitet sich, die ich erst viel später hören sollte: »Der Jakobsweg ist wie das Leben. Er gibt dir, was du brauchst, aber auch nicht mehr.«
Widerfahren
Von Conques nach Moissac
»Nichts ist drinnen, nichts ist draußen.
Denn was innen ist, ist außen.«
Johann Wolfgang von Goethe
Nachdem sich wohl für alle Pilger in Momenten der Unwägbarkeiten und des Durchhaltens die Grundfrage ihrer Pilgerschaft — das, was sie auf den Weg gerufen hat — wieder mit aller Macht ins Bewusstsein gedrängt hat, ist für sie nun die Zeit bewusster Wandlung gekommen. Durch den intensiven Kontakt mit ihrer Umgebung und sich selbst erfahren sie, dass alles eine Einheit ist. Dass außen innen und innen außen ist. Sie erfahren, dass das zu ihnen gehört, was ihnen scheinbar von außen widerfährt: Sie sind es, die äußere Ereignisse wahrnehmen und bewerten. Ihre Seele in ihrem spezifischen So-Sein nimmt das, was von außen kommt, in einer ganz eigenen Weise auf, so wie das gleiche Mittagslicht die eine Blüte am Wegesrand in kräftigem Gelb, die andere in zartem Hellblau zum Leuchten bringt. »Im Leben sind die Dinge selten nur gut oder schlecht. Sie wechseln ständig, je nachdem, wann sie geschehen oder wem sie
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