Das Zimmer
als die Gegenwart. In derselben Haltung steht er vor den Auslagen der Elektrogeschäfte wie vor den Bildern der Frauen, derselbe Musterungsblick, dasselbe Studium, hier sieht ihn ja keiner, den Wetterauer. Und schon wird er angesprochen von einer Frau, die auf einem Treppenabsatz steht, und hinter ihr ist eine Tür, hinter der – wie mein Onkel vermutet oder bereits weiß – das Paradies liegt. Sie nennt meinen Onkel mein Junge und trifft damit wahrscheinlich das Richtige, denn so sieht er gerade aus. Wastun? Kommt er zu spät nach Hause, muß er lügen. Dann muß er sagen, er habe noch eine ganz besonders schwere und schwierige Paketladung, oder der Zug sei mit Verspätung. Lügen kann er aber nicht, man merkt es gleich, wenn er lügt, daher gerät er stets in Zorn, wenn er lügt, weil schon in dem Augenblick, da er zu lügen versucht, jeder weiß, daß es gerade erlogen ist. Auch die Lüge war ihm immer von den Schultern genommen, vom lieben Gott und auf seine Weise. Ein Mensch, dem keine einzige Lüge gelang, und vielleicht hatte er schon früher, als Kind, nie gelogen, und es fehlte ihm bereits von daher die Übung. Er war ja immer stolz und glücklich gewesen, wenn seine Mutter stolz und glücklich seinetwegen war, da gab es keinerlei Abgründe in seinem Kopf, bis auf die Schläge des Vaters, aber noch auf den drei Kilometern Fußweg, die er zu Lebzeiten des Vaters jeden Tag von Bad Nauheim nach Friedberg zur Firma und zurück hatte laufen müssen, weil dieser ihn nicht in seinem Auto mitnahm, fühlte er sich ganz als der Sohn eines großen Firmenbesitzers, wenn auch gerade bloß auf Feldwegen zwischen Springkraut und Storchschnabel und Wegwarte und nicht zwischen den Steinen und den Maschinen. Man konnte auf ihn einprügeln, deshalb verlor er noch lange nicht den Glauben an die Ordnung der Dinge. Seine Geheimnisse fingen erst später an, dieselben, die ihn wohl gerade Richtung Theaterplatz, also durch das Kaiserstraßenviertel, führen. Wie entscheiden? Hier das Paradies, dort, zu Hause, das Gesetz. Die Frau auf der Treppe ist etwa fünfundvierzig Jahre alt, J. kennt sie, man muß nur einmal hier vorbeikommen, und sie steht garantiert immer da, die Fensterscheiben sind alle rot angemalt, man kann nicht hineinschauen, in der Tür hängt ein vergilbtes Plakat mit einer Frau darauf, bei der man alles sehen kann, was man soll und will. Der Gelbstich auf dem Plakat ist ganz ähnlich wie bei den röhrenden Hirschen des Försters vom Silberwald. In den sechziger Jahren hatte bereits die Gegenwart einen Gelbstich. Sehnsuchtsgebiete gleichermaßen, der Heimat- und Naturfilm wie das Kaiserstraßenviertel. Heute würde mein Onkel die ganze Nacht Fickwerbungen schauen, auf ihre Art auch Natursendungen, aber die gab es damals noch nicht, damals gab es nur die Bahnhofskinos, eine ganz eigene Welt für sich (und die Wetterauer). Die Frau auf dem Treppenabsatz schaut ihn nun aufmerksam an. Ihr Blick taxiert ihn (kennt sie J.?). Schon fast Geschäftspartner. Nimmt ihn nun ernst. Ernstzunehmender Kunde, sagt ihr Gesicht (er soll es sehen). Will ordentlich bedient werden, hat ein Anrecht darauf. Der Kunde zählt, denn der Kunde zahlt. Mein Onkel steht da und glotzt auf den Boden, aber da hat sich vielleicht schon der Schalter umgelegt, nun geschehen Automatismen. Hinein und gleich alles tun, schon jetzt kaum mehr auszuhalten, hinein und hinauf und heraus aussich, er hat es jetzt ganz genau vor Augen, auch die Augen quellen schon wieder hervor, als wollten auch sie heraus aus ihm, und die Frau sagt, na siehst du, mein Junge , als Onkel J. nun der Treppe zustrebt mit der Frau darauf und der Tür dahinter, hinter der sich ein Labyrinth aus Treppen und Stufen und Kammern öffnen wird, der Altbau, die Frankfurter Glücksarchitektur der damaligen Zeit. (Heute sind da sanierte Wohnungen für Familien und Rechtsanwälte.) Nun hat er die Zeit vergessen, auch den Zug retour in die Wetterau, den er nehmen muß, nicht einmal zum Theaterplatz hat er es geschafft, und schon macht er den nächsten Schritt auf die Treppe zu, man merkt es ihm nun wohl schon an, daß er zur Treppe strebt, vielleicht merkt auch die Frau, daß es hier zu einem Abschluß kommen wird, gleich, noch eine Geste, ein Signal, und er ist Kunde, und das Glück kommt dann ganz von allein. Vielleicht hat sie na siehst du, mein Junge nur vorsorglich gesagt, zur letzten Überredung, ihn vor die Tatsachen stellend, als sei der Geschäftsabschluß bereits Realität, als sei er
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