Das Zimmer
Tag der Eröffnung wäre er über die neue Straße gefahren, oder vielleicht am Tag danach (aus Respekt, er war ja überall nur im zweiten Glied). Allerdings hatte er in seinen letzten Lebensjahren, nach dem Tod der Großmutter, nicht einmal mehr das Auto. Der Variant war auf dem Schrottplatz gelandet.
Der Variant war die Hälfte seines Lebens gewesen, und noch heute kann ich mir meinen Onkel nicht ohne diesen Variant vorstellen. Ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, daß der VW-Variant meinen Onkel J. zu einem glücklichen Menschen machte. Bis heute sind beide für mich, der sehnsuchtsvolle Mensch und die sehnsuchtsbeladene Maschine, nicht voneinander zu trennen, sehe ich einen alten Variant (vereinzelt gibt es sie noch), denke ich an J., und denkeich an J., fällt mir immer der Variant ein. Eine Gedankenverbindung wie für die Ewigkeit. Er saß darin immer nach vorn gewinkelt, den Kopf nahe an der Frontscheibe, sommers wie winters, völlig unabhängig von den gegenwärtigen Sichtmöglichkeiten, ob bei Nebel oder bei klarem Himmel. Er saß im Variant nach vorn gewinkelt, wie er überhaupt immer nach vorn gewinkelt war. Der Kopf dann seltsam groß, wenn man durch die heruntergekurbelte Seitenscheibe hineinguckte bzw. er heraus (das Fenster mußte offen sein, sonst wäre er erstickt). Ein Auto, in dem ein Vierteljahrhundert geraucht wurde. Alte Armaturen, mit jedem Jahr immer älter. Der Schaltknüppel, heute gar nicht mehr vorstellbar. Es war eine lange, dürre Metallstange mit kleinem Knauf, fast wie für eine Kinderhand, die schräg ins Wageninnere hineinragte. Die kleine Kurbel an der Innentür, mit der man das Fenster hinunterkurbelte, mit einem Kunststoffgummiknauf, und auch die Türinnenbepolsterung aus irgendeinem Kunststoff, alles roch stets nach J. und seinem Leben. Die Polster waren sauber und klebten dennoch. Sie waren grau wie die gesamte Existenz meines Onkels, grau mit einem Stich ins Bräunliche. Es war, als würden die Ohren und die Augenbrauen meines Onkels die Formen des Variants (das Auto hatte windschnittige Kotflügel, so wie man sich das damals vorstellte) nachahmen, als wäre mein Onkel gleichsam konstruiert worden (vonden Volkswagenwerken selbst), um darin zu sitzen, im Variant. Für mich als Kind war es so, kein Variant war denkbar ohne den Onkel darin, beides war identisch, hieß es, die Oma und der Onkel kommen, kam der Variant, und mein Onkel auf dem Fahrersitz. Es war eine schon damals unglaublich veraltete Blechkiste, aber mein Onkel mußte auf Geheiß der übrigen Familie sorgsam mit seinem Wagen umgehen, deshalb hielt der Wagen fast sein ganzes Leben, es war ja sein einziger. Das Auto wurde einmal die Woche gewaschen und ab den siebziger Jahren zeremoniell in die Waschstraße gefahren, aber auch darüber konnte J. fluchen, und später ließ er es auch immer öfter sein, dann sagte mein Vater, sein Schwager, wie sieht denn der Wagen schon wieder aus? In den Wald zur Wirtschaft fahren kannst du, aber den Wagen saubermachen kannst du nicht. Ein Auto, ohne das auch das Forsthaus Winterstein für meinen Onkel nicht so leicht möglich gewesen wäre. Beim Anfahren neigte es zum Fauchen, später, beim Fahren, wurde daraus ein tiefes, substanzloses Röhren. Es sah auch so seltsam klein aus, zumindest jetzt, im nachhinein, kommt es mir so vor. Manchmal sehe ich dieses Auto noch im Schaufenster des Feigenspan, unseres Spielzeugladens in Bad Nauheim. Dort, in der Auslage, ist der nazibraune Variant ganz zusammengeschrumpft, auf sechs oder sieben Zentimeter, und ist verpackt in eine kleine Plastikbox (geruchlos). Ersteht dort unter fünfzig anderen Miniaturmodellen und ist doch unzweifelhaft das Automobil meines Onkels. Vielleicht steht ja sogar meine Mutter heute noch manchmal vor diesem Schaufenster des Feigenspan mit seinen Auslagen, die eigentlich schon aus dem Einstmals herüberragen, und sieht den Variant und hat dann für einen Augenblick noch einmal ihre Familie wieder, mit allen Konsequenzen.
Aber zurück, noch ist der Onkel jung, noch ist da kein Messeturm, noch ist Frankfurt bodennah und die Planungsphase für die B3a erst zehn Jahre alt (am Ende werden es vierzig Jahre gewesen sein), und mein Onkel geht zum Abschied von diesem Arbeitstag in Frankfurt vom Hauptbahnhof Richtung Theaterplatz, zwischen den Altbauzeilen, für die er keine Augen hat, weil seine Sehnsucht nie rückwärtsgewandt war, oder doch nur, insofern die Vergangenheit allen Berichten zufolge größer gewesen war
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