Das Zimmer
schon drin. Noch immer ein leerer Gesichtsausdruck im Gesicht meines Onkels und vielleicht die allerletzte Erinnerung an zu Hause und das Gesetz, bevor das große Nichts anbricht im Paradies für einen Moment und fünfzig Mark. Da sieht mein Onkel, daß fünf Meter weiter noch eine Tür ist. Steht auch so eine Frau und schaut, hat ihn noch nicht gesehen, man könnte jaauch da rein. Auch die Frau kennt er, sie steht nämlich auch meistens da. Sie ist etwas jünger, hat eine rauchige Stimme. Lächelt und taxiert ihn ebenfalls. Hat bestimmt noch keiner etwas gemerkt, daß er hier fast zur Treppe gekommen wäre, dann kann er also auch noch die fünf Meter weitergehen, fünf Meter noch ohne den Gesetzeskonflikt, alles noch gut, eine Welt, ganz normal, vorzeigbar, ordentlich. Jetzt steht er aber schon fast vor der anderen Frau. Die zieht die Augenbrauen hoch und lacht. Denn mein Onkel läuft wirklich wie ein kleiner Junge das Trottoir entlang, wagt gar nicht recht aufzublicken, die Hände in den Taschen. Jetzt nicht umdrehen, sondern schnell hinein, auch wenn zu Hause die sechzigjährige Mutter mit den Frikadellen wartet, die er im selben Augenblick vergessen haben wird. Ist er drin? J.? Nein, er steht herum und sieht jetzt fünfzehn Meter weiter noch ein anderes Haus. Da gehen viele rein und raus. Das Haus ist bekannt. J. hört auch auf der Arbeit oft davon. Fünfzehn Meter ist schon fast eine Welt, ein Leben. Und hinter ihm, am Dach des großen Bahnhofsgebäudes, hängt die große Uhr und beobachtet ihn. Noch kann er problemlos zurück und in die Wetterau. Die Uhr scheint ihn fast zu rufen. So ist er hin- und hergerissen zwischen zwei Welten. Einerseits kann ich mir nicht vorstellen, daß mein Onkel auch nur hundert Meter ins Bahnhofviertel geht, ohne sofort seiner Bestimmung zugeführt zu werden,andererseits kann ich mir genausowenig vorstellen, wie er den Gesetzesbezug, den ihm ebenfalls der liebe Gott mit der Zange in die Wiege gelegt hat, bzw. der betreffende Arzt, ablegen kann, ich müßte mir denn meinen Onkel vorstellen als jemanden, der aus zwei unvereinbaren Teilen besteht. Aber genau das war vermutlich der Fall. Und selbst wenn sein Leben jeweils nur aus einer Hälfte bestand, bestand sie doch aus zwei, denn die eine war immer dazu da, die andere zu unterdrücken. So kann man wechselweise in meinem Onkel entweder den Triumph der Natur über das Gesetz oder den Triumph des Gesetzes über die Natur sehen. In Wahrheit aber steht er genau dazwischen und ist vermutlich beidem völlig wehrlos ausgeliefert, und daher ist in ihm das damalige Frankfurter Kaiserstraßenviertel am besten auf den Punkt zu bringen. Deutschland, das geheime Land, mein Onkel, der geheime.
Aber diesmal taumelt er noch eine Weile über die Straße, bekommt dann von hinten auf die Schulter geklopft, ein Arbeitskollege mit letztem Zwiebelbutterbrot aus der Brotzeitdose in der Hand, der irgendwohin nach Hause strebt, in der einen Hand das Brot, in der anderen eine Zigarette, das Brot kommt von seiner Frau zu Hause, die Zigarette von Marlboro. Ein kurzes Gespräch, ein Blick zurück, die Uhr, und wieder wird der Schalter umgelegt, Onkel J.s Wesen springt auf die andere Seite, und der Wetterauergeht nun schnellen Schrittes zum Hauptbahnhof zurück. Ist alles gut und in Ordnung, die Welt ist heil, und das soll auch so sein, nichts ist geschehen. Froh, mit hellem Gemüt fährt er nach Hause und ist glücklich, daß alles seine Ordnung hat und er auch. Jederzeit eine vorzeigbare Existenz, alles andere kann er der Mutter ja gar nicht … und auch in Ehrfurcht vor dem Vater in memoriam . Auch die Schwester, sie leitet jetzt den Steinmetzbetrieb und macht die ganze Firma, auch sie hat einen ordentlichen älteren Bruder verdient, der zum familiären Einkommen beiträgt, in Frankfurt auf der Post, fast ein Beamter, den Posten hat ihm der Rechtsanwalt verschafft. Weiß J., daß er gerade versucht worden ist? Oder hat er sich bereits an die Versuchung gewöhnt, die Versuchung und die Erfüllung, wie an eine Zigarette, jederzeit greifbar und bereit? Keiner kann es wissen, es war ja nie jemand dabei. Ich auch nicht. Mein Onkel in Frankfurt, allein, wie er da herumläuft. Aber jetzt ist er heil und gerettet und geht zurück zum Hauptbahnhof, Rückkehr vom Arbeitstag, Feierabend, verdient, die Mutter begrüßen und dann in den Wald, fast ein Märchen. Oder er ist dem Arbeitskollegen gar nicht begegnet, stand auch nicht vor dem weiteren Haus, auch nicht vor der
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