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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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vor.

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    Manchmal glaube ich, J. hatte, zumindest in gewisser Weise, kein Erinnerungsvermögen. Natürlich erinnerte er sich an Dinge. Ohne das hätte er nie etwas lernen können. Er hatte immerhin eine Führerscheinprüfung gemacht, auch wenn diese damals noch ganz anders aussah als heute. Er wußte im Keller den richtigen Schraubenzieher für die richtige Schraube in die Hand zu nehmen (auch wenn nichts Sinnvolles darauf folgte, sondern wie gesagt nur eine Scheinhandlung). Und freilich erzählte er oft und lange, was er gestern im Forsthaus Winterstein oder im Jagdhaus Ossenheim oder im Goldenen Faß oder der Schillerlinde erlebt hatte, das heißt, wer da gewesen war und was erzählt hatte. Aber in gewissen Erlebnissphären wurde »Erinnerung« bei meinem Onkel gänzlich unterdrückt, scheint mir. Vor allem immer dann, wenn ihm Böses geschah. Wenn wir ihn im Fernsehzimmer quälten und zur Weißglut brachten (Weißglut, ein Wort, das ich stets in Zusammenhang mit meinem Onkel gehört habe, die Großmutter sagte immer, ihr habt ihn wieder zur Weißglut gebracht), dann hielt er zwar meistens irgendwann nicht mehr an sich und rannte uns hinterher, und wir davon,denn er wollte dann unbedingt doch endlich zuschlagen, aber war die Weißglut erloschen, war es nicht nur so, als sei nie etwas gewesen, sondern dann war er uns gegenüber sofort wieder genauso gutgläubig wie am Anfang. Er traute uns wieder und machte erneut dieselben Fehler, so ging es immer wieder von vorn los, als habe das letzte Mal gar nicht existiert. Bei seinem Vater und dem Lederriemen stelle ich mir das genauso vor, und das muß einer der Gründe dafür sein, warum Onkel J. nie in seinem Leben ein schlechtes Wort über seinen Vater gesagt hat. Dieser schlug ihn und verachtete ihn, heißt es, aber schon in dem Augenblick, da es geschah, war es wie nicht da, wie nicht wahrgenommen, und es blieb nichts davon übrig außer vielleicht einer schleichenden Angst, einer gewissen Vorsicht für alle Zukunft. Für J. war es vermutlich bloß Respekt. In der Schule muß es besonders fürchterlich gewesen sein. Er war dünn wie ein Strich, seine Beine besaßen kaum Waden, die Arme waren wie Stöcke und der beschädigte Kopf viel zu groß obendrauf gesetzt, aber auch da stand er am Folgetag wieder mit der gleichen Gutgläubigkeit und Anhänglichkeit bei denen, die gestern noch in ihn hineingetreten hatten, als ginge es um ihr Leben, und dabei ging es um seines. Er hängte sich immer an seine Unterdrücker, leider, sie hatten ja Macht über ihn, und jedweder Macht gegenüber war er voller Respekt, er bewunderte sie, Macht war natürliche Autorität, und dieser sich zu unterwerfen hatte etwas von Ordnung, von Disziplin, da konnte man seine Aufgabe erfüllen, gleichsam als unterer Dienstrang, den er immer einnahm im Leben. Der Schulhof war eine Wehrmachtsordnung im kleinen. Wie er sie anbeten und anhimmeln konnte, die Chefs! Seine Mitschüler machte diese Anhänglichkeit natürlich nur um so aggressiver. Da war jemand, der sich jeden Tag bereitwillig als Opfer darbot, und je mehr man zuschlug und zutrat, desto loyaler band er sich an einen. Das kannten sie nicht. Das überforderte sie. Da mußten sie gleich wieder zuschlagen. Sie machten es vielleicht gar nicht bewußt, vielleicht konnten sie sich selbst nicht wehren gegen diesen Allzuschwachen, seine Schwäche reizte sie. Man schlug fast automatisch zu. Er war ja am nächsten Tag wieder da, wie ein Hund, der einem nachläuft. Man konnte an ihnen studieren, was es heißt, das Lebendige (meinen Onkel, es hätte auch ein Wurm sein können) mit Lust zu quälen. Aber es gab immerhin noch seine Geschwister. Besonders seine Schwester konnte zur Furie werden, mit Schlägen und Tritten ihrerseits, wenn es um Rache für ihren älteren Bruder ging, auf diese Weise hatte sie sich konsequent Respekt verschafft an der Schule (später übernahm sie sein Erbe, notariell vereinbart unter Mithilfe meines Vaters). Das führte bei den Mitschülern natürlich dazu, daß man sich, kaum war die Schwester weg, gleich wieder an J.rächte. Am nächsten Tag ging es folglich doppelt so hart zu. Aber auch das hatte er schnell vergessen. Bis man ihn schließlich ins Rheinland schaffte, um ihn zu retten vor seinen Mitschülern. Auch nach dem Zuhauen war er stets so, als habe man ein Teil seines Wesens wieder zurückgesetzt, wieder in den Urzustand, wo es noch keine Schuld und keine Gewalt gegeben hatte, nur die Zange und die Mutter, seine beiden

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