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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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vierhundert Jahren nie veraltet war, wird, vom Jahr der Mondlandung aus gesehen, in den nächsten Jahren ganz schnell veralten und dann auch bald zusammenbrechen. Aber noch beherbergte es das Büro der Steinwerke Karl Boll und befand sich mitten im Leben, auch der Seniorchef, Karl Boll, der die Firma seit 1930 geleitet hatte, J.s Großvater und mein Urgroßvater, war ja erst kurz zuvor gestorben. J.s Vater und Großvater, beide starben im selben Sommer, an dessen Ende ich kam als letztes Mitglied der neuen Familie. Eben noch hatte mein Urgroßvater als Seniorchef in der Mühle gesessen und seine Zigarre geraucht im aktiven Ruhestand, und jetzt hing er bereits als Fotografie in der Mühle, wie er einstmals in der Mühle saß und rauchte, daran geheftet noch der Trauerflor vom Sommer 67. Seine Buchstaben aufdem Grabstein waren noch ganz weiß und frisch. Da sitzt er auf dem Foto beim hundertjährigen Firmenjubiläum und ist bereits ein Greis und ein Honoratior. Für mich ist das Büro der Firma, in dem Frau Rauch arbeitete, das älteste Stück Welt, das ich kenne. Ohne es zu merken, lebte ich darin in einer ganz anderen Zeit, ich lebte in diesem Büro noch vor dem Krieg, von dem ich nie gehört hatte, ich lebte noch in der Zeit der Weimarer Republik und eigentlich noch in der Kaiserzeit, auch wenn Frau Rauch bereits mit einem Audi 100 in die Firma kam. Jeden Tag kam sie sieben Kilometer herangefahren, von Nieder-Mörlen, dieselbe Distanz, die meine Urgroßmutter Else täglich zu Fuß gelaufen ist, um ihre Verwandtschaft zu besuchen, heute würde Frau Rauch, lebte sie noch (was, wie gesagt, nicht der Fall ist), die Ortsumgehung nehmen. Frau Rauch hatte die Stimme einer Raucherin, sie sprach tief.
    Mit gelbbraunen Fingern sitzt mein Onkel da in seinem graubraunen Hemd und raucht und schaut auf die Straße auf seinen nazibraunen Variant, Frau Rauch hustet gerade. In den siebziger Jahren wird sie noch viel mehr husten und dann auch schon tot sein. Jetzt kommt die Schwester. Die muß erst noch zum Metzger und dann noch zum Edeka. Falls ich da bin, sagt sie mir wahrscheinlich, daß ich noch bleiben solle und die Urgroßmutter mich später zu sich hole (ob ich bereits so alt bin, daß ich es verstehe, weiß ichnicht). Also bleibe ich im Rauch bei Frau Rauch, die sich eine neue Zigarette ansteckt, und mein Onkel und meine Mutter verschwinden eilends, denn bald muß sie zu Hause sein und sich um meine Geschwister kümmern, das Abendessen muß vorbereitet werden und so weiter. Meine Mutter schreitet nun über das Firmengelände und wird von allen höflich verabschiedet, was sie mit einem etwas verlegenen Lächeln quittiert, denn noch bis vor kurzem hatte sie sich nicht vorstellen können, plötzlich Herrin über einen so großen Betrieb zu sein. Sie trägt vermutlich einen leichten, hellen Mantel, ich kann mir auch ein Halstuch vorstellen, der Mantel ist etwa knielang, die Haare dezent toupiert. Sie ist vierunddreißig. Schnell läuft sie über die Straße und nach links zum Metzger Blum an der Straßenecke, und mein Onkel steigt in den Wagen und fährt ihr nach.
    Der Metzger Blum hat seinen Laden im Erdgeschoß eines kleinen Wohnhauses, drei Stufen führen zum Laden hinauf, mein Onkel bleibt stehen, dann kann die Ursel gleich vom Metzger in den Wagen »reinspringen«, wenn sie fertig ist. Gekachelte Wände, eigentlich ist der Raum leer, nur rechterhand eine kleine Theke, und dahinter hängen das Fleisch und die Würste über dem Fleischwolf. Mein Onkel sieht die junge Frau Blum und die Ursel durch die große Fensterscheibe beim Verkaufsgespräch. Die junge Frau Blum nimmt die Cervelatwurst, dann die Bierwurst, dreihundert Gramm Aufschnitt vielleicht, und packt alles in Butterbrotpapier. Meine Mutter im Mantel, wie ein Windstoß ist sie zum Blum hineingefahren, und die junge Frau Blum in Kittelschürze, wie immer. Jetzt noch Hack. Halb halb. Samstags gibt es immer Frikadellen, vielleicht ist ja heute Freitag, dann hat sie für morgen schon vorgesorgt. Nach dem Zahlen wird noch weitergeredet. Jetzt wird sogar gemeinsam gelacht, stumm hinter der Glasscheibe, während meine Mutter ihr großes Portemonnaie in die Handtasche zurücklegt, die sie sich unter den Arm steckt, um das Fleischpaket in beide Hände nehmen zu können. Jetzt steht sie noch eine Weile mit dem Fleischpaket in den Händen da, es gibt immer noch zu reden, wofür hat sich mein Onkel eigentlich so beeilen sollen? Vielleicht bleibt sie ja noch eine halbe Stunde da

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