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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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J. für sie ebenso die Chefetage wie die Schwester, auch wenn sie inzwischen alle wußten, wie es um ihn stand. Ihn beleidigen hätte bedeutet die Firma beleidigen. Auf diesen Gedanken wäre niemand gekommen.
    So betritt mein Onkel die Firma im zweiten Jahr nach dem Tod seines Vaters, meines Großvaters, und die ganze Welt ist überraschend in Ordnung. Er ist fast ein Chef. Der Bruder der Direktorin. Er geht in die Mühle zu Frau Rauch, der Sekretärin, und wartet auf seine Schwester. Auch hier wird er mit Achtung behandelt, Frau Rauch sagt: Herr Boll, darf ich Ihnen einen Kaffee bringen? Eigentlich kennt mein Onkel so eine Behandlungsweise gar nicht. Da mußten schon zwei Dinge zusammenkommen, nämlich daß Wilhelm Boll inzwischen tot ist und daß J. jetzt wieder öfter im Mühlweg auf dem Firmengelände verkehrt, eben weil er den Variant zur Verfügung gestellt bekommen und mit dem Automobil stets verschiedene Dinge unter anderem für seine Schwester zu erledigen hat. Die Autorität, die Wilhelm Boll inder Firma hatte, hat sich auf seine Nachfolger übertragen, in erster Linie natürlich auf die Schwester, die nun die Verantwortung trägt, aber auch auf J. und den jüngeren Bruder, der ebenfalls neuerdings auf dem Firmengelände empfangen wird, als sei er leitend. Frau Rauch bringt meinem Onkel einen Kaffee, zündet sich eine Zigarette an, und mein Onkel zündet sich ebenfalls eine Zigarette an. Die Zigaretten liegen in einem kleinen Holzkästchen auf dem Tisch und gehören ganz offiziell zur Büroausstattung und erscheinen auch so in der Buchhaltung. So sitzt mein Onkel da und wartet, in einem alten Zimmer, Balken um ihn herum, Linolboden und Aktenschränke, graugestrichen und aus Blech, mit Rolladenverschluß. Die Mühle ist einige Jahrhunderte alt und nun Büro. Das Büro muß damals selbst schon uralt gewesen sein und hielt auch nicht mehr lange vor, denn fünf Jahre später existierte die ganze Firma nicht mehr, und wenige Jahre später stand auch die Mühle nicht mehr. Vielleicht bin sogar ich im Büro, schon zurück vom Zahnarzt und kurze Zeit bei Frau Rauch abgeliefert. Ich kann mich an Frau Rauch (die immer rauchte und daran auch starb) ebenso erinnern wie an die Büroeinrichtung. Ich konnte mich immer gut bei Frau Rauch aufhalten. Überhaupt ging ich als Kind, als ich fünf, sechs Jahre alt war, gern in die Firma, wenn ich nicht bei meiner Urgroßmutter Else, der Mutter von J.s Vater, oder in der Uhlandstraße bei meiner Großmutter war. Zu Hause hielt ich es ja unter meinen Geschwistern nicht aus, und in der Firma konnte ich weitestgehend allein bleiben. Oft, während Frau Rauch rauchte, saß ich auf einem Stuhl und betrachtete die ganzen Buchführungsbücher und die Schreibmaschine und die versammelten Kugelschreiber und Bleistifte und die Spitzer und den Klebestift und den Schwamm, mit dem man die Briefmarken befeuchtete, diese ganze uralte, heute nirgendwo mehr existente Büroform von damals, es sah aus wie bei der Firma Hesselbach im Fernsehen. Ich saß bei Frau Rauch stets im Rauch, und wenn ich an jenem Tag, den ich hier beschreibe und erfinde, dem Tag meines Onkels, ebenfalls anwesend war, im Alter von zwei Jahren, dann sitze ich im doppelten oder dreifachen Rauch, denn sowohl Frau Rauch als auch mein Onkel rauchten, und wenn ein Arbeiter hereinkommt, raucht der natürlich auch. Das Büro war klein, völlig vollgestellt, alles mehr oder minder windschief, die Decken des Hauses hingen durch und werden, von damals aus gesehen, bald auch schon einstürzen, vielleicht kam es mir als Kind schon so vor, als säße man hier in der eigenen Vergangenheit. Ob sie in diesem Büro von der Zukunft träumten? Ob sie auch hier bereits wie ergeben auf die neuesten technischen Neuerungen warteten? Bei der Mondlandung hörten sie immerfort das Wort Computer, und dabei kannten sie bis dato noch nicht einmal den erstenTaschenrechner. Frau Rauch war die Meisterin der Aktenschränke. Noch schrieben sie alles mit Durchschlagpapier, in den Aktenschränken saß der Tabakgeruch, Frau Rauch aß Wurstbrote in Butterbrotpapier und bisweilen eine Zwiebel, und ihre Zigaretten ließ sie in einem Aschenbecher verschwinden, dessen Deckel auf mechanischen Knopfdruck hin sich kreiselnd öffnete und dann wieder verschloß. Nichts war in diesem Büro elektrisch außer dem Licht, abgesehen vom Kühlschrank, den sie natürlich auch hatten, für das Bier. Im Keller der Mühle stand stets ein Bierkasten als Nachschub. Dieses Haus, das in

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