Das Zimmer
erlebt, wo kommen die alle her, sind das alles Friedberger? fragt er sich, und seine Schwester, die es eilig hat, fragt es sich wahrscheinlich auch. Mein Onkel will eigentlich nun schon seit längerer Zeit an diesem Tag endlich ins Forsthaus Winterstein, aber auch seine Schwester ist pikiert und sieht es geradezu als eine Form persönlicher Beleidigung an, daß nun ausgerechnet in diesem Augenblick offenbar alle Friedberger, auswelchem Grund auch immer, auf die Kaiserstraße wollen, und sie will doch nur die Bettücher abholen, die sie vorgestern zur Reinigung gebracht hat. Aber bitte auch wirklich übermorgen, hatte sie in der Wäscherei gesagt, und die Wäscherei hatte gesagt, übermorgen auf jeden Fall. Das ehemalige Fräulein Boll, nunmehr Chefin, hat es verinnerlicht, den Forderungen Nachdruck zu verleihen, muß man ja auch. Sonst geht man unter. Auch oder gerade in der Wäscherei. Bis übermorgen, obgleich meine Mutter die Wäsche erst in einer Woche gebraucht hätte. Die Wäscherei ihrerseits hatte die Wäsche sowieso schon eine Stunde nach Abgabe fertig gehabt.
Nun stehen sie an der Stadtkirche, der Kirche Unserer Lieben Frau, und kommen nicht weiter, vor sich einige Autos des Jahres 1969, hinter sich der rostrote, teils schwarz verwitterte Backstein der Kirche, gotische Spitzbögen, Fialen und Krabben aus dem Mittelalter. Jetzt stehen sie da und kommen nicht weiter, warum? Das ist ihnen völlig neu. Meine Mutter findet es unerhört, daß man nicht einmal mehr mit dem Auto auf die Kaiserstraße kommt, ohne eine halbe Minute an der Stadtkirche zu stehen. Vor ihr vielleicht Herr Berger. Herr Berger arbeitet in der Firma, wieso ist der schon aus dem Betrieb weg und bereits in der Stadt? Und neben Herrn Berger (am Steuer) Frau Berger. Die Ursel, die Chefin, sieht jetzt den Herrn Berger, aber was muß der Herr Berger denn ein Autohaben und gerade jetzt auf die Kaiserstraße fahren? Warum müssen überhaupt seit kurzem alle immer irgendwohin und stehen einem im Weg herum? Und alle schauen sich so gewalttätig an, geradezu haßerfüllt. Von einem zum nächsten Auto schauen sie sich haßerfüllt an, als gehöre der jeweils andere keinesfalls hierher, sondern vielmehr nach Hause, und kann er da nicht bleiben? Nach einer kaum zu bewältigenden halben Minute ruckt der Verkehr wieder an, und alle in allen Automobilen fragen sich, wie das denn überhaupt, generell gefragt, hier weitergehen soll, wo man nicht einmal mehr auf die Kaiserstraße fahren kann, weil plötzlich alle auf die Kaiserstraße fahren. Man kann gar nicht mehr in die Stadt fahren.
Und nun biegen sie endlich auf die Kaiserstraße, und überall fahren nun von überallher kommende Autos um sie herum, wer von Usingen nach Frankfurt will, fährt durch Friedberg, wer von Bad Nauheim nach Wöllstadt will, fährt durch Friedberg, wer von Rödgen nach Dorheim will, fährt durch Friedberg, es sei denn, er fährt über Schwalheim, wer von Butzbach nach Bad Vilbel will, fährt über Friedberg, wer von Ober-Mörlen zum Ossenheimer Jagdhaus will, fährt durch Friedberg, wer von Florstadt zum Forsthaus Winterstein will, fährt über Friedberg, alle Zuckerrübentransporter fahren über Friedberg, kurz gesagt, eigentlich fährt neuerdings die gesamte Wetterau über Friedberg und da immer über die Kaiserstraße. Sie ist ja gar nicht mehr zu passieren, die Kaiserstraße, sagen sich alle, die gerade die Kaiserstraße passieren, und ahnen nicht, daß das erst der Anfang ist, wir haben ja erst das Jahr 69. Eben kommt mein Onkel an der Bindernagelschen Buchhandlung vorbei. Da steht der alte Herr Doktor Herrmann, der Eigentümer der Bindernagel’schen Buchhandlung, vor der Tür, über ihm die verschieferte Fassade des Hauses, und schaut ebenfalls auf den Verkehr und fragt sich, was das denn dermaleinst werden soll. Gerade als mein Onkel in seinem Variant vorbeifährt, kommt auch der Herr Usinger aus der Bindernagelschen Buchhandlung heraus, da ist der Herr Usinger, sagt meine Mutter, aber J. kennt den Herrn Usinger nicht und weiß auch nichts von ihm. Friedbergs Dichter. Weithin bekannt. Mit Preisen überhäuft. Der Herr Usinger wohnt in der Burg. Der Herr Usinger hat einen regelrechten Bücherstapel unter dem Arm. Die große Hornbrille im Gesicht und schlohweißes Haar. Zu Hause in seinem Fachwerkhäuschen in der Burg schreibt er Gedichte über kosmische Zusammenhänge. Jupiter, Saturn, Galaxien und energetische, kosmisch-universale Strahlenströme. Außerdem ist er gerade
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