Das Zimmer
Friedberger Friedhofsgesellschaft ein und bewirtschaftet privat und paarweise die Friedberger Gräber, und gleich darauf werden sie mit einer Bierflasche an der Usa in ihren Schrebergärten herumsitzen. Das ist der allnachmittägliche Tagesausflug: erst auf den Friedhof, dann in den Schrebergarten, abends vielleicht noch der Mann in die Dunkel oder in die Schillerlinde oder zum Hanauer Hof oder ins Goldene Faß oder ins Licher Eck auf die Kaiserstraße. So ging fast jedes Leben zu Ende damals, ich kann mich gerade noch daran erinnern, und heute stehen sie immer noch paarweise auf dem Friedhof herum (ich immer allein), nur sind es die Nachkommen der vorigen. Mein Onkel bemerkt sie nicht, er hat seine Aufgabe. Nun beendet er gerade die dritte Kanne. Alles still, nur die Vögel und das Plätschern des Wassers. Ei der Herr Boll, sagt jemand. J. schaut sich um und sieht, wie Rudi Weber mit seiner Schwester herangelaufen kommt. Die Schwester hat ihn gegrüßt.
Ei Rudi, sagt J. Zur Schwester sagt er Guten Tag.
Rudi Weber: Na, kümmerst du dich ums Grab deiner Familie?
Ei ja, sagt J.
Ja, sagt der Rudi, wir haben das schleifen lassen, seit zwei Wochen. Wenn du dich mal zwei Wochen nicht drum kümmerst, sieht alles gleich ganz schlimm aus, man könnte grad wieder von vorn anfangen.
Ei ja, sagt J. sachlich.
Wie geht’s Ihnen denn, Herr Boll, fragt die Schwester.
Ja, gut, sagt J.
Und Ihrer Mutter?
Danke, gut, sagt J.
Und Ihrer Schwester?
Ei ja, gut, sagt J.
Ihre Schwester bewundere ich ja schon, wie sie das alles hingekriegt hat. Stell dir vor, Rudi, sie leitet jetzt die Firma, die Steinwerke.
Weiß ich doch, sagt Rudi Weber.
Sie: Wieviel Kinder hat sie jetzt?
J.: Drei.
Sie: Und jetzt bauen sie ja auf dem Grundstück, habe ich gesehen.
J.: Ei ja.
Sie: Was ist ihr Mann noch gleich?
Rudi Weber: Rechtsanwalt.
J. bestätigt, Rechtsanwalt, aus einer ganz hohenBeamtenfamilie. Eine ganz hohe Frankfurter Familie. Der Schwiegervater ist in Frankfurt Oberpräsident.
Sie: Oberpräsident?
J.: Ja, Präsident … Präsident … von allem. Ein ganz großes Gebäude, die Oberverwaltung. Vielleicht das größte Verwaltungsgebäude in ganz Hessen!
Sie: Und da heiratet er nach Friedberg, sieh mal einer an.
Ja, sagt J.
Sie: Und geht es denn heute noch in die Wirtschaft?
Er wolle noch, sagt J., ins Forsthaus Winterstein, da seien die Woche die Jäger gewesen, sie hätten gejagt, auf dem ganzen Winterstein, eine große Jagd, eine ganze Jagdgesellschaft, er habe schon gestern hingehen wollen, er habe auch schon vorgestern hingehen wollen. Schon seit Tagen habe er vor, ins Forsthaus Winterstein zu gehen.
Gut, wir wollen dich nicht aufhalten, sagt Rudi. Oder können wir dir was helfen?
Und während Webers Schwester noch einmal von J.s Schwester anhebt, die, wie sie sagt, früher ein so hübsches Mädchen auf der Schule gewesen sei, mit tiefschwarzen Haaren, aber da habe es noch so ein anderes Mädchen gegeben, und da habe sie manchmal gedacht, wo das wohl hingehen werde, aber dann sei sie ja auch aufs Internat gekommen, wenn sie sichrecht erinnere, wo war es noch gleich … im Rheinland? In Bensheim, korrigiert J. … während also das Gespräch solcherart neu anhebt, überblickt Rudi Weber den Zustand des Bollschen Familiengrabes, schneidet mit seiner Schere ein paar Zweige zurecht, nimmt die verwelkten und ausgedienten Nelken vom Grab, verstaut den Blumentopf hinter dem Grabstein, richtet die Sträucher und räumt auch die vom Nachbargrab herübergefallene Plastikblumenvase wieder auf das Nachbargrab. Rudi Weber hat einen Blick für Ordnung, am liebsten würde er noch die Grabplatte fegen, aber leider hat er keinen Besen zur Hand, deshalb nimmt er sich vor, nachher (denn er muß noch einmal auf den Friedhof zurückkommen, weil seine Schwester die Stiefmütterchen für das Grab vergessen hat) auch gleich das Bollsche Grab ausnahmsweise mitzufegen, denn wenn J. heute auf dem Friedhof ist, kommt die Schwester J.s sicherlich frühestens in einer Woche ans Grab, und der Blumensiebert läßt sich auch nur selten auf dem Friedhof blicken, und Gräber fegen tut der Blumensiebert schon gar nicht, sagt sich Weber aus Erfahrung. Und wenn die Schwester nächste Woche das Familiengrab so sieht, wird sie sicherlich nicht zufrieden sein. Der J. Boll hat für Rudi Weber immer zu denen gehört, die es eben nicht so leicht haben, aus dem ein oder anderen Grund, und denen man deshalb immer ein bißchen helfen muß, damit auch so jemand
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