Das Zimmermaedchen
Sie kann die Beine des Manns sehen, der ins Bad geht. Sie hört den Wasserstrahl der Dusche. Das ist ihre Chance. Sie verlässt das Versteck. Sie schaut zur Badezimmertür, nichts, Lynn faltet die Pyjamajacke zusammen und stopft sie unter die Bettdecke.
Und jetzt?
Sie muss nur ganz leise den Raum verlassen. Schon wäre alles in Ordnung. Sie zögert. Der Duschstrahl immer noch zu hören.
Lynn öffnet die Tür nicht.
Sie bleibt.
Sie spielt.
Sie will.
Spürt das Kribbeln der Versuchung auf der Haut. Noch ein kurzes Zaudern: Was tu ich da eigentlich? Und Lynn handelt.
Sie kriecht zurück unters Bett.
Liegt dort.
Wartet.
So sieht Leben aus.
Ein paar Minuten reichen, ihr Revier zu erforschen, zu durchschnüffeln, zu markieren. Es ist dunkel dort und staubig, aber Beklemmung legt sich nicht auf ihre Brust. Wenn es die offenen Seiten nicht gäbe, läge sie wie in einem Sarg, aber es gibt die offenen Seiten, sie bringen Licht und Luft. Zwischen Nasenspitze und Unterseite des Lattenrosts bleibt mehr als eine Handbreit Platz. Sie kann die Hände an den Lattenrost klammern. Sie kann die Hände um den Kopf legen. Sie kann die Hände unter die Hüften schieben. Latten, Schimmern der Matratzen, Lattenrost, zwei Lattenroste, für jede Matratze einer, jeweils achtzig Zentimeter breit, zwei Meter lang, an den Stellen für die Schultern sind vier Streben ein wenig nach unten gebogen, nicht zu stark, sie stören kaum, das Bett hat vier Beine, keine zusätzlichen Stützen in der Mitte. Lynn legt die Hände um die Querstreben im Hüftbereich.
Der Mann kehrt ins Zimmer zurück. Er stellt den Fernseher an. Schnipsen eines Feuerzeugs, langes, entspanntes Ausatmen. Zuerst ein Film, den Lynn nicht kennt. Es macht ihr Spaß, aus dem Gehörten Bilder zu formen. Später ein Nachrichtensender. Leises Schlafatmen von oben, aber der Mann schnarcht nicht. Wie kann er dabei schlafen? Vielleicht der monotone Klang der Worte? Jetzt eine Stimme, die Lynn dem amerikanischen Präsidenten zuordnen kann. Der sagt: When I talk about war, I actually talk about peace. Nach einer Stunde wird das Programm wiederholt, fast identische Nachrichten, Endlosschleife. Lynn fällt in leichtes Dösen. Schließlich schläft auch sie ein. Irgendwann kommt sie wieder zu sich, der Fernseher ist ausgeschaltet, ihr Genick schmerzt, aber Lynn fühlt sich gut dort, unterm Bett, sie horcht eine Weile dem Atmen über ihr. Am Morgen kriecht sie aus dem Versteck, als der Gast unter der Dusche steht.
Mittwoch ist Lynns freier Tag. Sie verlässt das Hotel durch den Hinterausgang, ohne dass sie gesehen wird. Ihr Herz schlägt schneller, wenn sie an die Nacht denkt. Wenn sie daran denkt, was hätte geschehen können. Wenn sie daran denkt, was sie hätte belauschen können. Wenn sie daran denkt, dass man sie hätte erwischen können. Eine Schicht Müdigkeit liegt auf ihr. Alles ist seltsam verkleistert. Aber sie weiß, dass sie es wieder tun wird, tun muss, sie weiß, dass sie etwas gefunden hat. Jeden Dienstag, sagt Lynn, ich werde es jeden Dienstag tun.
4
A m Sonntag wird sie unruhig. Sie weiß nicht, ob sie es bis Dienstag aushalten kann. Noch zwei Nächte in ihrem eigenen Bett. Noch zwei Nächte allein. Und in dem Augenblick, da sie daran denkt, vielleicht schon am Montag unters Bett des Gasts von Zimmer 307 zu kriechen, es ist eine alte Frau, die sich für eine Woche einquartiert hat und merkwürdigerweise über ein Ersatzgebiss verfügt, das wie ein vergessenes Lächeln im Zahnputzbecher schwebt, in dem Augenblick, da Lynn gerade ihren Putzlappen auswringt und dem leisen Tröpfeln des Wassers lauscht, betritt Heinz das Zimmer 302, in dem sie gerade putzt.
»Lynn«, sagt er.
Lynn steht auf und sieht ihn an.
»Da ist ein Anruf gekommen«, sagt Heinz.
»Was für ein Anruf?«, fragt Lynn.
»Deine Mutter.«
Lynn zieht die Putzuniform aus. Das geht mechanisch. Sonntag ist blassblau, Lynn steigt in ein Taxi zum Bahnhof, in den Zug nach Hause, vier Stunden Fahrt, am Heimatbahnhof nimmt sie ein Taxi zum Krankenhaus, dort zögert sie, raucht und versucht, so viel Qualm wie möglich bei sich zu behalten, zerdrückt die Zigarette im bereitstehenden Behälter. Neben ihr pafft ein Mann mit dickem Verband um den Schädel, er lächelt. Bei der Anmeldung erfährt Lynn die Zimmernummer: II8. Eins plus eins ist zwei, zwei plus zwei ist vier, vier plus vier ist acht. II8. Ihre Mutter ist wach. Die ersten Worte zielen auf Beruhigung. Nichts Schlimmes, sagt die Mutter, zum Glück
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