Das Zimmermaedchen
aufs Laufband. Meist merkt es niemand. Doch wenn man es merkt, schaut man misstrauisch. Lynn erfüllt die Pflicht Nahrungsaufnahme. Sie mag es, die Essensvorbereitung absichtlich in die Länge zu ziehen.
Dann tut sie Dinge, die an sich sinnlos sind, gern schält sie Radieschen. Das ist nicht einfach, weil die Radieschen so klein sind. Während Lynn die rote Schale von den Böllchen schnitzt, lächelt sie, weil sie an die Menschen denkt, die Radieschen nur waschen und in den Mund stecken, und weil sie denkt, die sehen doch viel schöner aus, die Radieschen, wenn sie nackt sind, ganz weiß, ganz bloß. Lynn geht spazieren ab und zu, dabei sucht sie Ziele, die alle suchen, Stadtpark zum Beispiel, dreht eine Runde, manchmal auch zwei, jetzt, im Frühjahr, wenn Sonne durchbricht, schwitzt sie leicht, weil sie noch den Mantel trägt und unterm Mantel einen dicken Pullover. Wenn sie einen Stein sieht, der auf dem Weg liegt, handtellergroß, hebt sie ihn auf, nimmt ihn mit und wirft ihn in den Teich, der nicht viel Wasser führt im Augenblick. Sie verfolgt die Kreise und freut sich, wenn der größte von ihnen erst am Ufer zerbricht.
Abends schaut Lynn in den Fernseher. Sie leiht Filme aus, gern sieht sie Modern Times, Schafe, Menschen, Schafe, denkt Lynn, kommen nicht ungeschoren davon, sie lässt die DVD aus dem Schlitz gleiten und bringt den Film noch am selben Abend zurück. So spart sie eins fünfzig.
Draußen wird es nur langsam wärmer. Die Nacht atmet flach. Manchmal sitzt sie auch nur da und lässt den Film vom DVD-Player fressen. Dann schaut sie aus den Augenwinkeln zu. Hört nicht auf Worte. Weiß nicht, worum es geht. Allenfalls Kleinigkeiten springen ihr ab und zu ins Auge. Wenn jemand eine Fluse wegbläst oder ihm Haare in die Stirn fallen, oder wenn Lynn am Bildrand etwas sieht, über das sie nachdenken kann, ein Requisit, das scheinbar achtlos dorthin gestellt wurde, die Kamera hält es nicht mal für nötig, länger drauf zu verweilen, sie schwenkt nur drüber weg, ein Tischfußballspiel, nicht aufgebaut, hinter die Tür gelehnt, eine rosa Schleife um den Henkel eines Mülleimers, ein umgekipptes, trockenes Tintenfass, ein Parka an der Garderobe, eine eingeritzte Liebeserklärung im Baum, unlesbar, eine Schaukel im Hintergrund, die sich noch leise bewegt, als wäre gerade ein Kind abgesprungen und vom Spielplatz fortgerannt, kurz bevor die Schauspieler an der Schaukel vorbeigingen, und statt dem Film zu folgen, fragt sich Lynn, was für ein Kind könnte dort geschaukelt haben, und warum ist es so schnell fortgerannt, und hatte es Angst?
Den Schlaf lässt Lynn über sich ergehen. Nächte sind neutral. Sie stellen keine Bedrohung dar. Auch keine Erleichterung. Nächte verschlucken mich, denkt Lynn, morgens werde ich ausgespuckt. Heinz hat Lynn einen Vorschuss gegeben, die Rechnungen sind bezahlt, das Telefon geht wieder. Lynn ruft ihre Mutter jeden Donnerstag an. Sie besucht sie aber nicht. Allein die Hinfahrt würde vier Stunden dauern. Der Therapeut, sagt Lynn der Mutter, hat es verboten, eine so lange Reise. Die Mutter murmelt etwas, das Lynn nicht versteht, nichts Böses, nur Trauriges, denkt Lynn. Und der Therapeut nickt zu oft. Jeden Freitag sucht Lynn ihn auf. Das ständige Nicken stört sie. Manchmal sagt Lynn absichtlich Dinge, die, wie sie denkt, nicht von einem Nicken begleitet werden können, trotzdem nickt der Therapeut. Das treibt sie regelmäßig auf die Palme. Lynn reißt sich am Riemen, und oft schaut sie ihn gar nicht an, den Therapeuten, aber dann denkt sie wieder, wenn ich schamvoll zu Boden blicke, zieht er die falschen Schlüsse. Lynn bekommt Tabletten, nimmt sie aber nicht oder selten. Einmal ist sie etwas lauter geworden, hören Sie auf, hat Lynn gerufen, hören Sie endlich auf zu nicken. Aber der Therapeut hat nur gesagt, das ist gut, das ist gut, lassen Sie es raus, und dabei hat er immer wieder genickt. Jeden Freitag der Therapeut. Jeden Mittwoch ihr freier Tag. Jeden Donnerstag der Anruf bei Mutter, immer am Donnerstag um halb acht abends vor der Tagesschau. Ihre Mutter hat ihr Leben lang um acht die Tagesschau gesehen, es ist kein Tag vergangen, ohne den Acht-Uhr-Gong aus dem Wohnzimmer. Jeden Montag das Treffen mit Heinz, zwischen ein und zwei Uhr, ihr Eintrittspreis für die Show der Normalität. Lynn sprüht Kalkentferner auf Toilettenränder, muss das Mittel verreiben, verstreichen, denkt sie, verstreichen wie Stunden.
Und es beginnt schleichend.
Lynn bleibt immer länger
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