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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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noch eine Zeit nach Her m ann gibt. Und so was nenne ich nicht dumm, sondern verzweifelt.«
    Henriette nickte bedächtig. »Das ar m e Ding.«
    Sie beobachteten eine Kutsche, die an ihnen vorüberkla p perte. Ein paar ju n ge Kerle in einem Auto m obil verlangsa m ten neben dem G e fährt, riefen lachend ein paar Obszönitäten zum Kutscher hinauf und fuhren rasch weiter. D e r alte Mann blickte ihnen resigniert hinterher, dann sank sein Kopf wieder zwischen seine Schultern.
    » W ir wollten über Sie sprechen«, s agte Henriette nach einem Moment, »nicht über Ursi.«
    »Ganz gleich ob Ursi oder sonst wer – ich m e rke, dass andere für m i ch i m m er unwi c htiger werden. Klingt ein wenig seltsam, nicht wahr?« Chiara musste wie d er lac h en, aber d i es m al hatte es einen bitteren Beigesch m ack. » W as ich m eine, ist, dass ich m i r f rüher Sorgen um eine Freundin wie Ursi ge m a cht hätte. Heute ist das anders. Bei allem stehe im m er ich im Vordergrund … Herrgott, wie schlimm muss das schon sein, dass es m i r sogar selbst auffä llt .«
    Sie warf einen Blick zu Henriette hinüber, aber die Kolu m nistin sah im Gehen geradeaus und wartete darauf, dass sie f ort f uhr. »Ich will auf das, was ich err e icht hab e , nicht m ehr verzichten. Nachts träu m e ich sogar vom Erfolg. W i r wissen beide, wie kurzlebig das alles sein kann, und wenn irgendwann eine neue Jula auftaucht …« Sie m usste den Satz nicht beenden. »Ich brauche noch m ehr Erfolge, da m it ich auch später noch weiter m achen kann … Und all das beschäftigt m i ch viel m ehr als das, was m it Ursi gesc h i e h t. Verst e hen Sie, was ich m eine? Ich bin eine schreckliche Egoistin geworden, und ich habe  noch nicht m al ein schlechtes Gewissen deswegen – es ist, als könnte ich m i ch nicht dagegen wehren.«
    »Das ist es, was das Fil m geschäft einem antut«, sagte Henriette nickend. »Anderen vor Ihnen ist es genauso gegangen. Zu viel Geld, zu viel Luxus und zu viele halbherzige Freundschaften, die letzten Endes nichts wert sind. Aber eines haben Sie z i e m lich schnell begriffen: Stagnation ist in dieser Branche d er erste Schritt n a ch unten. W enn die Leute nicht m erken, dass Sie im m er besser und, vor alle m , dass Ihre Gagen i mmer höher werden, wird m an Sie bald abschreiben.«
    »Ich habe einen Anwalt beauftragt, m eine Verträ g e auszuarbeiten, und er m acht das ganz gut … Aber das reicht nicht. Man m uss per m anent präsent sein.«
    »Noch vor ein paar Monaten war Ihr ein z iger Ehrgeiz, möglichst schnell wieder von hier fort zu kom m e n.«
    »Sehen Sie?« Chiara blieb stehen. »Das ist es, was ich m eine. Ich spüre die Veränderung ja selbst, aber ich kann nichts dagegen tun. An m anchen Tagen ist es, als wäre das gar nicht ich, die sich da ins Atelier fahren lässt, sondern nur je m and, der aussieht wie Chiara Mondschein. Je m and, der alle Äußerlichkeiten übernom m en hat und nur noch auf den Erfolg fixiert ist. Und ich selbst bleibe im Bett liegen, schaue zu und weiß, dass dies trotz allem der einzi g e W eg ist. Nic h t v orwärts, so n dern aufwärts .«
    »Aber Sie wollen doch den Erfolg.«
    »Natürlich. Und i m m er m ehr davon.«
    »Das m acht Ihnen Angst ? «
    »Manch m al – so wie jetzt, wenn ich sehe, was aus Ursi geworden ist … und was aus m i r werden könnte.«
    »Aber Sie haben eine W ahl.«
    »Glauben Sie? Ich denke, nic h t. Ich bin ein m al auf den  fahrenden Zug aufgesprungen – Julas Zug –, und jetzt kann ich nicht m ehr herunter. Und wenn ich ehrlich m it m i r bin, will ich das ja auch gar nicht.«
    Henriette w ar still und nachdenklich, was Chiara m ehr beunruhigte als jeder Vorwurf oder jede unechte Besänftigung.
    » W as ist?«, f ragte sie s c hlie ß lich.
    Die Kolu m n istin zög e rte noch einen Augenblick länger, dann sagte sie: » W issen Sie, was das Erstau n lic h e ist?«
    » W as m einen Sie?«
    »Jula hat m i r m ehr oder weniger das Gleiche gesagt. Sie hat fast dieselben W orte benutzt.«
    »Sie hat das genauso empfunden ? «
    Henriette nickte. »Nur hat sie Jahre gebrauc h t, ehe sie an diesen Punkt gekommen ist – und Sie nur ein paar Monate.«
    Chiara lächelte nervös. »Und das bedeutet was?«
    »Nun, dass Sie entweder früher aufgeben werden als Ihre Schwester – oder aber s ehr viel erfolgreicher werden als sie. So v i el Ehrgeiz muss sich ei nf ach auswirken, in die eine oder andere Richtung.«
    »Aber ich war nie ehrgeizig.«
    »Jetzt sind

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