Das zweite Gesicht
Offenbar hat es sich k urz darauf wieder in Luft aufgelöst.«
Chiara s ch ü tt e lte d en Kop f . »Das ist m i r a l les völlig neu.«
»Sehen Sie, mir ging’s genauso. Und ich bin immerhin Julas Biographin.« Henriette verzog das Gesicht. »Das m acht die Sache jedenfalls s pannender, als ich ursprünglich gedacht hatte.«
» W ollen Sie, dass ich Masken danach frage ? «
»Ich glaube nicht, dass er Ihnen irgendwas darüber erzählen wird – falls er überhaupt davon weiß. Außerd e m scheint er im Augenblick genug eigene Sorgen zu haben, falls die Gerüchte stimmen.«
» W elche Gerüchte?«
Sie erreichten Voll m oellers Haus, und Henriette senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. » Medusa. Sie erinnern sich doch ? «
»Natürlich.«
»Scheint s o, als hätten sich d i e Gespen s t er d e r Vergangenheit zu W ort ge m e ldet.« Ein W i ndstoß ließ sie nach ihrem Hut greifen. »Ich erzähle Ihnen m orgen davon, wenn Sie wollen. Das hier ist nicht gerade der beste Ort dafür. Die Konkurrenz, S i e wissen schon …«
Chiara sah sie noch einen Augenblick lang stumm an, dann hob sie die Schultern. » W ie Sie wollen. Morgen um siebe n ?«
»Gerne.« Henriette blickte üb e r ih r e Schult e r. »Da steht ein Taxi, falls Sie eines suchen.«
Chiara rührte sich nicht. »Sie haben es eben selb s t gesagt: Es hat keinen Z w eck, vor seinem Schicksal davonzulau f en.«
Die Kolu m n istin sah sie besor g t an. »Sie woll e n wied e r da rauf gehen ? «
»Ich gehöre dazu, oder? Dar a uf läuft es doch hinaus: Ich bin jetzt eine von denen, so oder so.«
»Sie haben das nicht nöt i g. Sie sind nicht wie die anderen.«
»Nein ? « S i e lächelte. » V ielleicht doch.« Henriette sah sie schweigend an.
»Bis m org e n«, sagte Chiara.
Die Reporterin schüttelte ihr wortlos die Hand.
Chiara drehte sich u m , klingelte und wurde eingelassen.
Siebzehn
Der W i nd bewegte den Flügel einer toten Taube i m Rinnstein. B ei jeder Berührung des Bordsteins erzeugte er ein l e ises R a scheln wie von Schritten.
Chiara at m ete erleic h t ert auf. Sie hatte geglau b t , je m and sei hinter ihr. Aber da war nie m and. Kein Mensch. Nur der winkende Taubenflügel.
Vor ihr verlief die Charlottenburger Chaussee schnurgera d e nach W esten, m itten durch den Tiergarten. Es war kurz nach eins, ein kühler W i nd strich über das Pflaster, und in den hohen Bau m k r onen rechts und links der Stra ß e rauschten d i e Blätter. Im schwachen Licht der Straßenlaternen wirkte das Laub farblos, fast grau.
W i e gefi l m t, dachte Chiara.
Vom Brandenburger Tor bis zu ihrer Haustür benötigte sie zu Fuß gewöhnlich eine halbe Stunde. Gerade genug, um einiger m aßen nüchtern zu werden. Und sie brauchte jet z t f risc h e Lu f t , m ehr als alles an de re.
Sie war m ü de und wund, und sie war betrunken. Kein Kokain, dies m al nicht, auch wenn das Zeug in Kästchen überall im Saal und im Salon gestanden hatte. Sie hatte sich ganz gezielt betrunken. Vielleicht wegen de m , was Henriette gesagt hatte. Dass sie nicht davonlaufen konnte vor … ja, vor sich selbst? Vor Jul a ? Irgendwie war das alles ein und dasselbe.
Eine kleine Gestalt überqu e rte in einiger Entfernung die Chaussee, in dem dunklen Bereich zwischen zwei Straßenlaternen. Ein Mädchen, dachte sie. Das Mädchen aus dem Scheunenviertel?
Nein, Unsinn. Ein Kind, ja, aber ein Junge. Er verschwand zwischen den Bäu m en auf der anderen Straßenseite, nicht ohne vorher einen Blick in ihre Richtung geworfen zu haben. W aren da Stimmen jenseits der Bäu m e, hinter dem ä uß e ren Rand des Lichtscheins?
Sie hatte ei g entlich kei n e Angst. Der Tier g arten war bei Nacht das Reich der Stricher und Homosexuellen, Frauen ka m en so gut wie nie hierher. In den Büschen trafen sich m ännliche Paare zum Stelldichein, und an vielen Seitenwegen warteten Jungen und Männer auf Kundschaft. Keiner hier hatte Interesse an einer Frau. Sitten s tr o l c h e suchten s i c h ihre Op f er anderswo.
»Na, verlau f en ? «
Sie drehte sich u m , eine Spur zu schnell, und beinahe wäre sie aus dem Gleic h gewicht geraten.
Ein junger Kerl stand da, siebzehn, achtzehn Jahre alt, und zog an einer Zigarette. Sein Gesicht war nur so lange sichtbar, wie die Glut aufleuchtete, dann versank es wieder in Dunkelheit. Hinter ihm war der Junge, den sie eben gesehen hatte.
»Hallo«, sagte sie, wandte sich ab und ging
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