Das zweite Gesicht
Sie’s, ob S i e es wahrhaben wollen oder nicht.«
Chiara schwieg. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, bis ihr beinahe schwindelig wurde.
»Sie haben gesagt ›aufgeben‹ … M einen Sie d a m it, so wie Jula au f gegeben hat?«
»Sich u m b r ingen? Gott bew a hre! Alles hi n s c h m eißen, m eine ich. Berlin verlassen, kein Star m ehr sein.«
»Glauben Sie allen Ernstes, ich würde das tun? W i eder
zurück gehen, um Drahtspiralen in Notizblöcke zu ziehen ? « Ihr Lachen klang so höhnisch, dass es ihr einen Mo m ent lang vorka m , als hätte sie es vor der Ka m era ausgestoßen, nicht im w i rklichen Leben.
»Masken meint, ich sollte in Jul a s Villa ziehe n «, sagte sie nach ei n er W eile.
»Ich hab m i ch gewundert, dass Sie das noch nicht getan haben. Das im m erhin hatten S ie I h rer Schwest e r voraus – Jula hatte gar keine andere W ahl, als die Suite im Adlon zu neh m en. Sie schon.«
»Sie denken auch, ich sollte in die Villa ziehen ? «
» W ollen Sie wirklich m e inen Rat?«
»Ich würde sonst nicht fragen.«
»Dann neh m en Sie das verflixte Haus. Ziehen S i e ein, es gehört Ihnen. Offenbar ist es ohnehin Ihr Schicksal, Julas Platz ei n zu n eh m en. Am besten hören Sie auch da m it auf, sich dagegen zu wehren.«
Julas Platz einneh m en. Darauf w a r es die ganze Zeit hinausgelaufen.
»Machen Sie Nägel m it Köpf e n«, sagte Henriette. »Es ist ja nicht so, dass Sie es s i ch nicht verdient hätten. S i e sind eine gute Schauspielerin, vielleicht eine bessere, als Jula es je hätte sein können.«
»Ich denke drüber nach.«
»Tun Sie das.«
Sie drehten um und schlenderten zurück zu Vollmoellers Haus, das immer noch von einem halben Dutzend Journalisten belagert wurde. Aus der Ferne betrachtet, wirkte so viel Aufwand um nichts noch lächerlicher.
»Ich weiß, wir sollten nicht im m er über Jula sprechen«, sagte Henriette, »aber eine S ache interessiert m i ch noch.«
»Fragen Sie ruhig.«
» W ussten Sie, dass J u la vor drei Jahren für ein paar Monate untergetaucht ist ? «
»Untergetaucht ? «
»Nun ja, ich kann auch sagen: verreist. Nach Asien, soweit sich das reche r chie r en lie ß . Tibet wahrschei n lich oder Nordindien.«
Chiara sah sie erstaunt an. » W ann ist das gewesen ? «
»Im Frühjahr 1919. Für etwa f ünf Monate, so weit sich das noch feststellen ließ. Z u m i ndest ist s i e erst da n n wieder in Berlin gesehen worden.«
»Das ist das erste Mal, dass ich davon höre.«
Henriette nickte. »Sie selbst hat nichts davon erzählt. Aber ich hab’s von anderen gehört. Keiner war sicher – zu m i ndest keiner von denen, die m i t m i r reden wollten –, aber an der Sache scheint was dran zu sein.«
» W as, um Him m els willen, wo l lte sie in Tibet? F e ri e n m achen?«
»Das habe ich auch erst ver m utet. Aber dann hab ich noch ein paar andere Dinge gehört. Sieht aus, als hätte Jula … nun, als hätte sie rel i giöse Gründe gehabt.«
Chiara blieb stehen. »Meine Schwester? Nie im Leben.«
»Haben Sie m al von den Theosophen gehört ? «
Sie kannte das W ort, konnte es aber im Augenblick nirgends zuordnen.
»Rudolf Steiner ? «, fragte Henriette w eiter.
Chiara stutzte – und erinn e rte sich. Die Bücher in Maskens Bibliothek. »Ich hab m al s einen Na m e n gelesen, das ist alles . «
»Jula scheint eine glühende Verehrerin Steiners gewesen zu sein. Ich kann Ihnen m ehr darüber erzählen, falls es Sie interessiert. W i r könnten uns in den nächsten Tagen treffen, wenn Sie wollen. Kein Sorge, das soll kein Inter v iew werden. Ich erzä h le I h nen einfac h , was ich weiß. Einverstanden ? «
» W arum nicht ? «
»Freut m i ch. Schlagen Sie einen Ort vor. Vielleicht nicht gerade das Ro m anische Café, da gi bt es zu vi el e ges p it z te Ohren, wenn m an Sie erkennt.«
» W eshalb kom m en Sie nicht einfach bei m i r vorbei? Morgen Abend ? «
»Gerne. Das Ganze ist w i rklich eine selt s a m e Sache. Ein paar Leute behaupten, sie hätten Jula nach ihrer Rückkehr m it einem Kind gesehen, das sie wo m öglich von dort m itgebracht hat.«
»Ein Kind ? «
»Nicht ihr eigenes. Ein asi a tischer Junge, etwa elf oder zwölf Jahre alt. Sie i s t zw ei- oder dr ei m al m it i h m gesehen worden, immer inkognito, deshalb bin ich nicht hundertprozentig sicher, ob es wirklich Jula war, die die Leute beobachtet haben. Falls doch, wäre es eine zie m lich m erkwürdige Geschichte, weil Jula dieses Kind nie erwähnt hat.
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