Das zweite Gesicht
weiter.
Hinter s i ch hörte s i e di e Schritte der beiden, aber sie ka m en nicht näher.
»Hast nix zu suchen h i er um diese Zeit«, sagte der ältere wieder.
»Ich suc h e ja a u ch nichts«, e n tge g nete s i e, o h ne sich u m zudrehen. »Oder sieht das für dich so aus ? «
Als keine A ntwort ka m , schaute sie im Gehen über die Schulter. Die beiden waren fort. Chiara ging ein wenig schneller.
Die Abstän d e zwischen den Stra ß enlater n en sc hi enen i h r größer zu werden, je weiter s i e n ach W esten ka m . Der Wechsel zwischen Helligkeit und Schatten wirkte härter.
Pfützen aus Licht, Pfützen aus Dunkelheit. W i eder Schritte.
Und wieder nie m and hinter ihr.
Den Großen Stern, die Kreuzung im Zentrum des Tiergartens, hatte sie bereits passiert; dort hatte sie zwei Schutzpolizisten auf Streife gesehe n , aber auch ein halbes Dutzend Stricher und ihre Fre i er, die sich beim Anblick der Ordnungshüter ein wenig tiefer zwischen die Bäu m e zurückzoge n .
Sie ahnte, dass sich im Dunkel jenseits der Bäu m e zahlreiche Menschen aufhielten, aber im Augenblick sah sie nie m anden. Nicht ein m al einen der Sta d tstreicher, die ihr anfangs ein paar Mal aufgefallen waren, schnarchende Bündel aus Lu m pen und verfilztem Haar.
Die Chaussee dehnte sich ins Endlose, ab und an gab es Laternen, in denen kein Licht brannte, und der W i nd wurde kühler. Um nichts in der W elt wäre sie in einen der Fußwege abgebogen, die in unregel m äßigen Abständen von fünfzig bis hundert Metern t i efer in die F i nsternis der Bäu m e führten. Ganz egal, ob Frauen h i er s i cher waren oder nicht.
Etwas traf sie am Kopf.
Ein Kichern, links von ihr in der D unkelheit. D ann ein du m pfer Laut, gefolgt von einem wütenden Aufschrei.
Chiara rieb sich d i e Schläfe u n d blieb für ei n en Augenblick benommen st ehen. Der Stein, m it dem m an sie beworfen hatte, war winzig, und sie bezweifelte, dass m an sie da m it ernsthaft hatte v e rletzen wollen. Ob ihr die beiden Jungen noch folgten?
Beherrsch dich. Bleib ganz ruhig. Jetzt nur keine Panik. Huschte da eine Gest a lt durch die F i nsternis?
Vor ihr tauchten die La m pen eines W agens auf. Sie spielte m it dem Gedanken, dem Fahrer zuzu w i nken und ihn zum Anhalten zu bewegen. Aber wer hielt nachts um eins im Tiergarten für eine ei n same Fra u ? Gewiss nur je m and, der es genau darauf abgesehen hatte.
Sie behielt die Ar m e unten.
Der W agen kam näher. Viell e icht eine Poliz e i st r ei fe ? Er war jetzt noch fünfzig, sechzig Me ter e n tfernt.
Ein Blick ins Dickicht. Augen in der Dunkelheit, die sie beobachteten.
Ein Polizeiwagen, bitte!
Sie sah nur die beiden L i chter, die näher ka m en, und, ja, der W agen wurde langsa m er. Br e m st e ab. Gott sei Dank!
Neben ihr brachen Äste, Laub wisperte. Das w ar nicht der W i nd.
Der W agen hatte keine Aufschrift, die Karosserie war schwarz. Sie erkannte nie m anden hinter der S cheibe, nur zwei Hände, die auf dem Lenkrad lagen.
Das Fahrzeug rollte heran, jetzt fast im Schrittte m po. Chiara trat an die Bordste i nkante und hob einen A r m . Der Wagen hielt neben ihr, die Beifahrertür wurde geöffnet.
»Bitte«, be g ann sie, »w ü rden Sie …«
Je m and packte sie und riss sie herum. Sie schrie auf. Ein A r m legte sich von hinten um ihren Oberkörper, eine Hand presste auf ihren Mund. Sie versuchte hineinzubeißen, ohne Erfolg. Dann zerrte man sie ins Innere des Wagens, w ä hrend das Fahrzeug sich wieder in Bewegung setzte. Sie sah, wie je m a nd durch die Büsche brach, eine Silhouette, die zwischen den Bäu m en hervorschoss – dann wurde die Tür zugeschlagen, und sie saß auf je m ande m , der sie in e i ser n em Griff hielt. Sie tr a t um sich, und es gelang ihr, ihre Fi ngernäg e l in das Bein ihres Entführers zu schlagen und den Ho s enstoff zu zerfetzen. Er schrie auf, ganz nah hinter ihrem Ohr. Er m utigt wehrte s i e s i ch he f tiger.
Draußen auf d e m Gehweg g l aubte sie Gestalten zu sehen, aber sie konnte kaum m ehr als verschwom m ene Bewegungen wahrneh m en. Der Mann in ihrem Rücken bekam ihren A r m zu fassen und hielt sie fest. Trotzdem versuchte sie weiter, sich zu wehren, wenngleich ihr jetzt weniger Er f olg beschieden war.
Sie warf ei n en Blick nach lin k s z u m Fahrer. Der Ma n n trug einen Mantel m it hochgestelltem Kragen und einen Hut, aber sie konnte erkennen, dass er keine H aare hatte, weder am Hinterkopf noch über den Augen. Keine
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