Das zweite Gesicht
jetzt ? «, fragte der Fahrer.
Chiara überlegte, schaute auf ihre Uhr, überschlug im Kopf Entfe r nung und Fahrdauer. Genug Zeit, hoffte sie.
»Nun ? «, fragte er ungeduldig.
Sie nannte ihm Maskens Adresse.
Acht
Das Tor war geschlossen. Sie bezahlte, stieg aus und sah zu, wie sich die Rücklic h ter des Automobils entfernten.
Je m and schrie in der Ferne.
Nur das Kreischen stählerner Räder, irgend w o in der
Weite der nächtlichen Schienenwüste.
Das Gelä n de war p echschwarz, nur jen s eits des künstlichen Horizonts der Bahnanlagen glühten vereinzelte La m pen, hunderte von Metern ent f ernt.
Sie zog den Schlüsselbund he r vor, d en sie in Julas Villa entdec k t hatte. Nach ihrem ersten Besuch m it M asken war sie noch drei m al allein dort gewesen, auf der Suche nach Spuren, die ihr m ehr über ihre Schwester erzählen konnten. T eile des Hauses, einige Schränke und Kommoden waren o ff ensichtlich bereits durchsuc h t worden. Sie be m erkte es an Kleinigkeiten, daran, wie bestim m t e Kleidungsstücke zusam m engel e gt worden waren oder dass der Inhalt einiger S ch m inkkoff e r auf eine Art und W eise zusammengestellt w ar, wie es nur je m and tun würde, der sich noch nie selbst gesch m inkt hatte.
Masken st a nd auf ein e m Zettel, d er an den Met a ll r i n g geklem m t war, zusa mm en m it vier Schlüsseln. Sie hatte ihn in der Küche entdeckt, in einem Mehlkrug. Es war ko m i sch auf eine bei n a h e tra g ische W eise: Jula hatte ihn an einem Ort verstec k t, an dem Masken nie m als gesuc h t hätte, denn nach alle m , was Chiara gehört hatte, hatte Jula ihre Küche so gut wie nie betreten. Sie hatte ei n e Köchin gehabt, ein Hau s m ädchen, zeitweise einen echten engli s chen Butler, als auch a ndere Diven einen angestellt hatten. Schon als Kind hat t e Jula Küchenarbeit
verabscheut, und gerade deshalb hatte Chiara in der Küche der Villa g esucht. S i e wusste, we n n Masken o der son s t wer ihr an einem Ort im Haus nicht zuvorgekom m en war, dann hier. Nie m and rechnete da m it, dass Jula gerade hier etwas verbergen könnte. Nie m and außer Chiara. Sie kannte Jula länger als alle a nderen, und sie wusste, dass schon daheim in Meißen ihr liebstes Versteck zwischen Ofen und Besenschrank gewesen war – weil sie schon da m als dem Irrtum aufgesessen w ar, ausgere c hnet dort würde Chiara nicht suc h en. Die stibitzten Z u ckerstange n ; die Geldbörse, die sie ge m eins a m a uf der Straße gefunden hatten und die Jula für sich b eansprucht hatte; das kleine Bündel m it Liebesbriefen von einem älteren Jungen aus der Gerberei nebenan.
Das alles hatte Jula als Kind und junges Mädchen in der Küche versteckt. Und genauso hatte sie es nun, Jahre später, m it einem Päckchen Kokain ge m acht, auf das sie in einem Anf l ug von Galgenhu m or Notration geschrieben hatte; m it den Bildern von einem jungen Mann, den Chiara nicht kannte und, so ver m utete sie, auch sonst nie m and aus der Branche; m it einem Notizheft voller N a m en und Adressen von Straßenecken und Kneipen, wahrscheinlich Drogenhändler und deren Standorte; ein paar unbeschrifteten Tütc h en m it Kräutern, die Rausch m ittel sein m ochten, Chiara aber eher Aphrodisia k a zu sein schienen; und, zu guter Letzt, dem Schlüsselbund, den Jula aus M askens Ha u s entwendet hatte. Ob sie es aus einer Laune heraus getan oder tatsächlich etwas da m i t bezweckt hatte, wusste Chiara nicht.
Jetzt jedenfalls hatte sie d i e Schlüssel. Schon der zweite, den sie au s probierte, p asste. Sie schlüpfte durch das Tor und schloss hinter sich wieder ab. Ihr war un w ohl, als sie über die freie Fläche z w ischen Mauer und Haus ging. Sie f ühlte sich b eobacht e t, i h r Herz r a ste.
Mach dich nicht verrückt. Masken ist bei Ursi und Her m ann.
Julas steinerne Ebenbil d er b lic k t en ihr e n tgegen, als sie sich dem Haupteingang näherte. Ki e s kni r schte u nter ihren Schuhen. Der W i nd, der über die Mauern und das weite Grundstück fegte, war empfindlich kalt. Sie knöpfte ihren Mantel zu und schlug den Kragen hoch. Ein Hund bellte. Weit genug weg, hoffte sie.
Mehrfach blickte sie über d i e Schu l ter i n der Befürchtung, die Lichter von Maskens W agen hinter dem Torgitter zu sehen. Aber dort war nur Dunkelheit. W eit entfernt sprühte ein Gey s ir von Funken aus dem Boden wie ein Feuerwerkskörper, Unsichtbare bei Schweißarbeiten an W e i chen und Waggons.
W i eder das
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