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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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oder aber die Augen waren schlichtweg zu winzig.
    »Ja.«
    »Jetzt gleich ? «, fragte der Mann. »Es ist noch früh, aber  …«
    »Das m acht nichts.«
    Chiara sc hi en es, als at m e der alte M ann auf. Die  Autoritätsv e rhältnis s e v e rwir r t en sie.
    »Komm, gib sie m i r.« Der Mann nahm Diandra vorsichtig die Maus aus den Fingern und legte sie beiseite, sehr sanft, als handele es sich u m ein kostbares St ü ck Porzellan.
    Das Mädchen stand auf, ohne seine Hilfe und kein bisschen unbeholfen.
    Diandra ist nicht blind.
    Chiara blickte in die weißen Mar m oraugen der Kleinen und fror.
    »Gehen wir«, sagte Diandra.
    Sie lief voran, zielstrebig den Flur hinunter bis zum Ende des Ganges. Der alte Mann öffnete die Tür, vor der das Mädchen stehen blieb. Er ließ die Kleine eintreten und bat Chiara und Jakob, ihr zu folgen.
    »Ich hoffe, du weißt, wo du uns hier hingebracht hast«, raunte Chiara Jakob zu.
    Er nic k te n ur, aber das a u f m unternde Lächeln, das sie erwartet h atte, v i elleic h t sogar ein Augenzwinkern, kam nicht.
    Das Mädchen nahm Platz am Rand eines runden Teppichs, flauschig, in schlichtem Rot, ohne Sy m bole oder sonstige Verzierungen.
    »Setzten Sie sich zu i h r«, bat d er alte Mann. » Mit d em Gesicht zur Mitte d es Teppichs. Ja, genau so.« Er selbst blieb stehen, während sich Chiara und Jakob im Schneider s i tz niede r lie ß en. Chiara v er f luchte s i c h, weil sie ein Kleid statt einer Hose tru g ; s i e musste den Saum bis zu den Knien hochschieben, um in die richtige P osition zu kom m en. Zum ersten Mal seit sie ihrer Ankun f t im Viertel warf Jakob ihr ein versch m itzt e s G rinsen zu. S i e tat, als hätte sie es nicht be m e rkt, m achte aber keinen Versuch, ihre nackten Beine zu bedecken.
    Du vertraust ih m . Nicht, was da s angeht.
    Aber er h a tte sei n en Bli c k schon wieder von ihren Beinen gelöst und blickte zu Diandra hinüber. Chiara konzentrierte sich auf das Mädchen. Auf das Weiß ihrer Augen. Sie waren unverhältnis m äßig groß im Vergleich zum Rest ihres Gesichts.
    Der alte Mann nahm aus einem R e gal an der Wand ein Buchstabe n brett m it Planchette, beides se h r s c hlic h t , kein Vergleich zu dem kostbaren Schnitzwerk, das Her m ann benutzt hatte. Die Oberfläche des Bretts war zer k ratzt, m anche Le t t ern kaum m ehr lesbar. Es gab regelrechte Furchen im Holz, die von der Mitte des Bretts zu den einzelnen Buchstaben führten und diese auch untereinander verbanden, Spuren häufiger und intensiver Nutzung.
    Sie erwartete, dass m an sie aufforderte, wieder d i e Hand über die Planchette zu legen, und sie war bereit, sich zu weigern.
    »Ich m uss dich berühren«, sagte das Mädchen zu ihr.
    Chiara streckte unsicher die Hand aus.
    »Nein.« Diandras leere Augen blickten weder auf die  Hand noch auf Chiara. »Dein Gesicht.«
    »Es ist wichtig«, sagte der alte Mann hinter ihr im Dunkeln. Der Raum war nur vage durch eine La m pe erhellt, sie befand sich genau über dem Teppich. Rundherum versank alles im Halbschatten.
    Chiara beugte sich über das Brett hinweg. Einen Augenblick lang war ihr, als träfe sie von unten ein kühler W i ndstoß. Einbildung, sagte sie sich. Du fantasierst.
    Diandra le h nte sich e b enfalls vor, streckte beide Hände aus und legte sie auf Chiaras W a ngen. Ihre Finger und Handflächen fühlten sich kalt an. Chiara d a chte daran, dass sie eben noch die tote Maus gehalten hatten. Die Fingerspitzen begannen, ihre Züge zu ertasten. Chiara schauderte und schloss die Augen, als sie die Bewegungen wiedererkannte, m it denen Diandra den Tierkadaver er f ühlt h att e . Beinahe als wäre j e tzt sie, Chiara, die Tote, um die es ging.
    Übelkeit stieg in ihr auf, und sie war drauf und dran, das  Ganze abzubrechen, als Diandra die Hände zurückzog.
    »Ich werde Sie jetzt allein lassen«, sagte der alte Ma n n und ging zur Tür. »Machen Sie sich keine Sorgen.«
    Die Tür wurde ins Schloss gezogen.
    Diandras Li ppen zuckten. Öffneten und schlossen sich. Stumm for m ten sie Worte, die nur sie selbst verstand. Sie selbst – und derjenige, an den sie gerichtet waren.
    »Sie ruft einen Kontrollgei s t«, flüsterte Jakob. »Er wird dabei sein, um Acht zu geb e n. Eine Art Aufseher über …«
    »Still!«, zischte Diandra.
    Jakob verstum m te m it einem letzten Blick in Chiaras  Richtung. Dann konzentrierten sich beide ganz auf das
    Mädchen.
    Diandra s t reckte d i e Hand aus, ließ sie über der  Planchette s

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