Das zweite Gesicht
Julas Haus gesessen. Auf einem S i ms in ihrem Schlafzim m er.
Sie blieb st ehen, dre h te sich um – aber d i e Stufe war leer.
Irgendwo kicherte ein K i nd. Ein m al nur, ganz kurz.
Sie ging zurück, bückte sic h . I h re Hand stre c kte s i ch nach der leeren Stufe aus, bis ihr bewusst w urde, wie unsinnig das aussehen musste. Es gab nichts anzufassen. Nichts aufz u heben.
Keine Puppe.
»Chiara ? « Jakob stand am Ende d e r Treppe und wartete auf sie. Hinter ihm leuchtete das Gesicht des alten Mannes im Däm m erlicht einer Deckenlampe. Er wirkte sehr korrekt in seinem grauen Anzug, aber der verzogene Mundwinkel ließ sie schaudern.
»Ich …«
» W as tust du denn da ? «
»Nichts. Ich dachte … nein, es ist ni chts.« Sie l ö ste sich von d e m Anblick der leeren Treppenstufe und schloss zu den anderen auf.
Der alte Mann ging wieder voraus, einen langen Flur hinunter, dessen vergilbte Tapete im Schein der einzigen La m pe eine unruhige Struktur beka m , wie Wellen aus Schatten, die Chiara und Jakob den Gang hinab folgten.
Der Flur m ündete in einen Quergang. Eine Silhouette huschte vorüber, m annsgroß, seltsam grob und unför m i g, m it A r m en und Beinen wie ein Mensch, nur klobiger, ein Gole m .
Der Schatten einer Puppe.
Sie fragte sich, ob Jakob ihn ebenfalls gesehen hatte, aber er v erzog kei n e Miene. Sie bere ut e bereits, hergekommen zu sein. Anderers e its hatte sich ihrer e i ne Spannung be m ächtigt, die weit über einfache Neugier hinausging.
W i eder das Kichern.
»Diandra«, sagte der alte M a nn, »ist die Richtige für Sie.«
Chiara konnte sich nicht erinnern, den Grund ihres Besuchs genannt zu haben.
Sie bogen nach rechts, und der Mann blieb vor einer unscheinbaren Tür stehen. Chiara schien es, als sei im letzten Mo m ent etwas unter dem Türschlitz hindurch geglitten, ein dunkles Stück S t off, vielleicht. Oder ein Schatten.
»Diandra ? « Der Mann brachte seinen Mund ganz nah ans Holz der Tür.
Chiara hö r te kei n e Antwort, a ber nach einem Augenblick nickte der Alte zufrieden, drückte die Klinke hinunter und bat sie hinein.
Sie hatte alles Mögliche erwartet, einen f i nsteren Beschwörungsrau m , eine Art K apelle oder Klause. Stattdessen betraten sie ein Kinderzimmer.
Die W ände waren geweißt, es gab ein B ett m it säuberlich geglätteten Be z ügen und einen ganzen Berg Spielsachen: Holzfiguren, einen sperrigen Kaufladen, einen Bauernhof m it g e schnitzten T i eren. Natürlich auch Puppen; die von der T reppe aber konnte sie nirgends entdecken.
In der M itte des Zim m ers, auf einem Teppich am Boden, saß ein kleines Mädchen m it blonden Locken, in einem weißen Kleid und weißen Schuhen. Es wirkte an einem Ort wie dem Scheunenviertel so deplaziert wie eine
Prinzessin in einem Kohlenkeller.
Das Mädchen wandte ihnen d e n Rücken zu und schaute nicht auf, als sie eintraten. Es war m it etwas beschäftigt, das es im Schoß hielt, geschützt vor ihren Blicken.
Als sie sich der Kleinen n ä herten und Chiara über ihre Schulter blickte, erkannte sie, was es war. Diandra hielt eine tote Maus in ihren Händen.
»Ich kann sie nicht verstehen«, flüsterte das Mädchen.
»Kann sie einfach nicht verstehen.«
Chiara erschrak, als sie das Gesicht des Mädchens sah. Es war sehr jung, höchst e ns sieben Jahre alt.
Der alte Mann schien nic h ts Absonderliches an dem Kadaver in Diandras Fingern zu finden. Er ging vor der Kleinen in die Hocke, und sein Gesicht zeigte eine Sanf t m ut, die Chiara ihm nicht zu g etra u t hätte.
»Du hast Besuch, Diandra.«
Das Mädchen drehte die Maus in den Fingern. » K ann sie nicht verstehen.«
»Gäste, Diandra. Sie sind schon hier im Z i mmer.«
»Ja«, sagte die Kleine. »Ich weiß.«
Sie hob den Kopf und blickte Chiara an.
Ihre Augäpfel waren weiß wie Marmorkugeln.
»Sie ist blind«, flüsterte Chiara.
»Nein«, widersprach der Alte energisch. » S ie kann vielleicht Ihren Körper nicht sehen, Fräulein Mondschein, aber s i e s p ürt Sie. U n d sie h ö rt weit m ehr als n u r I h re Stim m e. Diandra ist nicht blind.«
Chiara wechselte einen hilflosen Blick m it Jakob, der kaum m erklich die Schult e rn hob. Von ihm konnte sie keine Unterstützung erwarten.
Der Mann wandte sich wieder d e m Mädchen zu.
»Diandra, hast du Zeit für deine Gäste ? «
Die kleinen Finger tasteten über den Kopf der Maus. Sie versuchte, die Lider zu heben, aber entweder w ar der t o te Körper bereits zu steif,
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