Das zweite Gesicht
chweben.
»Er ist hier«, sagte sie. Ihre weißen Augen schimmerten geisterhaft, haarfeine A dern verästelten sich unter der Oberfläche.
Er ? , dachte Chiara. Wahrscheinlich m einte sie diesen Kontrollgeist, von dem Jakob gesprochen hatte – was im m er das bedeuten m ochte.
»Die Toten kennen dich«, sagte Diandra.
Chiaras Gedanken galoppierten in alle Ric h tun g en, ab e r sie schwieg. Glaubte sie, was sie sah und hörte? Ihre Vernunft bestritt die Worte des Mädchens, stellte die gesa m t e Umgebung infrage. Aber ihr Herz sagte etwas anderes.
»Kennen dich«, wisperte Diandra erneut.
Chiara blickte zu Jakob hinüber. Er sah angespannt auf den Psychographen hinab. Als er be m erkte, dass sie ihn beobachtete, schaute er auf und schenkte ihr ein kurzes Lächeln.
Die Planchette bewe g t e sich.
Diandras Hand befand sich zwanzig Zenti m eter über dem Holz in der Luft.
Chiara at m ete aus, bis ihre Lunge vollkom m en leer war, erst dann holte sie langsam wieder Luft.
Der Holzzeiger k ratzte über d as Brett, gezielt u n d schnell. Er verharrte auf dem V A u f dem O. A u f dem R.
Er buchstabierte VORSICHT.
»Ist das … Jula ? «
Diandra gab keine A ntwort. Sie war völlig in die Bewegung der Planchette versunken, wie in Trance.
»Vorsicht vor we m ? «, fragte Chiara. Vor Masken? VOR schrieb die Planchette.
Diandra gab einen spitzen Ton von sich, ein kindlicher Sch m erzenslaut, als hätte je m and sie m it einer Nadel gestochen. Aber sie hielt den K ontakt aufrecht, die Planchette b ewegte sich weiter.
Erneut ein V.
Die Buchstaben s etzten s i ch zusammen zu VERMÄCHTNIS.
Jakob sah zu Chiara herüber. Sie starrte im m er noch auf das Brett, als stünden die W orte dort wie auf einem Blatt Papier ge sc hrieben. A b er die P l anchette h atte s i ch wied e r zur leeren M itte bewegt, der Satz war beendet.
Vorsicht vor Vermächtnis.
D a m it konnte nur Julas Erbe ge m eint sein.
Sie e r inne rt e sich an d e n Zett e l in ihrem Hotelzim m er. Passen Sie auf vor Julas Erben, hatte darauf gestanden, in schlechtem Deutsch, gespickt m it F ehlern. Und wenn auch die Endung nur ein Fehler gewesen war? W enn Julas Erbe ge m eint war, nicht ihre Erben?
Diandra stieß einen hohen Schrei aus.
»Jakob!« Chiara rief seinen N a m en und sprang gleic h zeitig m it ihm au f . Beide waren so f ort bei dem Mädchen, aber es schüttelte ihre Hände ab, m it einer Kraft, die nicht allein a u s dem sch m ächtigen Körper kom m en konnte.
Diandras Lider flattert e n. Dann schlossen sie sich.
Der Zeiger scharrte über das Holz, so schnell, als würde er von etwas darüber getragen. Diandras Hand war nicht ein m al in der Nähe. Die Bewegungen waren so rasch, dass Chiara Mühe hatte, die Buchstaben im Kopf zu behalten.
ICH KANN NICHT H E LFEN.
Und wieder:
VORSI C H T VOR VE R MÄCH T NIS.
Chiara schoss durch den Kop f , da s s sie keinen Beweis hatte, dass der Geist in Urs i s W ohnung tatsächlich Jula gewesen war. Hätte Jula sie aufgefordert zu gehen? Oder hätte sie n i cht eher Fre u de d a ran gehabt, wenn ihre kleine Schwester von Masken und den anderen in die sch m utzigen Gehei m n i sse i h res Zirkels eingewei h t worden wäre?
BÖSE, buchstabierte die Planchette.
»Jula ? «, fragte Chiara b e klom m en und vergaß darüber fast das Mädchen, das sich vor ihr am Rand des Teppichs wand.
BÖSE, wiederholte das, was den Zeiger lenkte.
» W er ist das ? «, stieß Jakob ate m los hervor. Chiara gab k eine Antwo r t.
Diandra r o llte auf die S e ite und krüm m t e sich. Sie presste ihre Hände auf den Bauc h , als h ätte sie etwas Gi f tiges v e rschluc k t. I hr Atem ging stockend, setzte im m er wieder ganz aus.
»Hol Hilfe!«, brüllte Chiara.
Jakob rannte zur Tür und riss sie auf.
Sie wollte sich um das Kind kümmern, nicht m ehr um die Pla n chette, aber s i e ertap p te s i ch dabei, wie ihr Blick im m er wieder zum Psychographen zuckte. Die Planchette war wieder in Bewegung gerat e n, aber jetzt zeichnete sie wirre Muster aufs Holz, zeig t e nicht m ehr auf Buchstabe n , und wenn doch, dann glitt s i e zu schnell darüber hinweg, um verständliche W örter zu fo r m en.
Diandra öffnete die Augen.
Ihre Augäp f el wa r en nicht m ehr weiß. W eite Pupill e n starrten Chiara an, u m f a sst von hellbraunen Höfen.
Es war, als blicke Chi ar a in einen Spiegel. D a s waren ihre Augen. Julas Augen. Die Augen ihres Vaters.
Sie war so entsetzlich hilflos, wie sie da neben dem
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