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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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dessen sie sich noch im m er nicht wirklich bewusst war. Vielleicht, weil es nicht ihr eigenes war, sondern Julas.
    W i e o f t hatte Jula die se s Vie r tel be sucht? W i e o f t war sie durch diesen Pfuhl aus Sch m u t z und A r m u t gewatet, um Gott weiß was zu finden? C hiara kam es vor, als könnte sie Julas Spuren vor sich auf d e m nassen Pflaster sehen, als wäre et w as von der Anwesenheit ihrer Schwester zurückge b l ieben zwischen diesen graue n , verwahrlosten Häusern, den schum m rigen Kellerlöchern, zerschlagenen Türen und trübe gewordenen Fenster s cheiben. Zwischen den Huren und den Heilige n , den Randalierern und den Rabbis, den grölenden
    Betrunkenen, weinenden Kindern vor angelehnten Türen, hint e r denen ihre Mütter Freier be fri edigten, den Bettl e rn in der Gosse und den Kriegsveteranen, die auf Beinstü m pf e n und Krücken um Al m osen und Alkohol flehten.
    Das Scheunenviertel, w o die Menschen in einer Sprache redeten, die sie nicht verstand, halb Jiddisch, halb antiquierte Gaunersprache.
    » W ir sind gleich da«, sagte Jakob. Er trug einen langen Mantel und einen Hut, den er tief ins Gesic h t gezogen hatte, bei n ahe als fürc h t ete er, in den engen G assen und finsteren Straßen erkannt zu w e rden. Auf Chiara wirkte e r wie ein humorloser D oppelg ä nger seiner selbst, und sie f ühlte sich in sein e r Nä h e jetzt g ar ni cht m ehr so wohl wie noch vor wenigen Stunden.
    Sie hatten den W agen an einer breiten Straße parken müssen; die Häuser standen h i er zu eng beieinander, als dass ein A uto m obil hindurchgepasst hätte. Jakob hatte einem Jung e n von fünf z ehn oder sechzehn Jahren ein paar Münzen in die Hand gedrückt. Nun müssten s i e sich k eine Sorgen m ehr m achen, hatte er Chiara er k l ärt, d i e Bande des Jungen würde darauf achten, dass nie m and d e m Wagen zu nahe ka m . Der verschlagene Blick des Jungen hätte sie beunruhigt, wäre es i h r ei g enes Fahrzeug gewesen. S o aber nickte sie nur und m u r m elte: » W ie du m einst.«
    Sie war besorgt, nicht weg e n des Wagens, sondern weil sie fürchtete, einem von Ca r m elitas Spießgesellen über den W eg zu laufen. D i e Männer hatten sie für einen Polizeispitzel gehalten, und sie befürchtete, dass dies hier im Scheunenviertel ein Vergehen m it langem Schatten war. W enn je m and sie erkannte, sah es schlecht für sie aus.
    Und Nette? Das schlechte Gewissen überkam sie m it aller Macht: Sie hatte n i cht e i n m al versucht, Kontakt zu ihr au f zun e h m en. Aber wollte sie das überha u pt? Nett e s Welt war ihrer eigenen so unendlich fern. Trotzde m , das Mädchen hatte eine Menge für sie ris k ie r t . W o m öglich war es selbst der Bande zum Opfer gefallen, vielleicht schon vor Wochen. Chiara hätte es nicht ein m al erfahren.
    Sie befanden sich irgend w o westlich der Grenadierstraße, so viel hatte s i e erkannt. Da m it aber verabschiedete sich ihr Ori e ntierungssinn. Es gab viel zu viele Ecken und Durchgänge auf viel zu engem Rau m , weit m ehr, als s i e an ge nom m en hatte. Dies hier war noch Berlin und war es do c h nicht. Nichts in dieser Gegend hatte Ähnli c hkeit m it einem a nderen Teil der Stadt, und die Menschen, die ihnen um diese Uhrzeit über den W eg lie f en, wir k ten allesa m t ir r eal, wie Ko m parsen in ei n em Fil m , beunruhigend stili s i e rt im trüben Schein d e r Laternen.
    Es war kurz vor elf, als Jakob stehen blieb. Er nahm ihre Hand m it einer Selbst v erstän d lich k eit, d i e sie erstau n t e, ihr zu g l eich aber M u t m achte. Die Berührung war eine war m e, f reundliche Ge st e in m itten dieses Nebellabyri n ths aus Schatten und Halblicht und hallenden Schritten.
    Irgendwo in der Nähe schrie ein kleines Kind.
    Anderswo brüllten sich zwei Frauen an, b eide zu betrunken, um klare W o r t e zu artikulieren.
    Eine Poliz e ip f ei f e sch r illte, s ehr weit e n t f e r nt, und verstum m te abrupt.
    »Hier ist es«, sagte Jakob und deutete auf eine Tür an der Rückseite eines Hauses. Eine einsa m e Lampe brannte in einer Halterung an der W and. Nichts ließ darauf schließen, was sich im Inneren des G ebäudes verbarg.
    Jakob hatte es ihr während der Fahrt erklärt: »Es ist ein  Waisenhaus«, hatte er gesagt, während das Licht entgegenkommender Auto m obile bleiche Sche m en über seine Züge wandern ließ. »Aufgenom m en werden nur Kinder, die bestim m t e Vorauss e tzungen erfüllen. Sie alle haben gewisse … Begabungen.«
    Sie hatte

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