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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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es nur noch wie das Husten eines Kindes, das sich verschluckt hatte.
    » W as ist das ? «, fragte J a kob, obwohl auch er es längst erkannt haben m usste.
    Der alte Mann stand auf, das Ding immer noch in der
    Hand.
    Diandra begann leise zu wei n en. Als sie sich verst ö rt u m schaute, sah Chiara, dass ihre Augen wieder weiß waren. Sie nahm die Hand des Mädchens und streichelte sie s anft, v ersuchte Worte zu finden, um die Kleine zu beruhigen, aber ihre A ugen suchten im m er wieder den bleichen Gegenstand, als hoffte sie, sich doch getäuscht zu haben.
    » W as ist das ? «, fragte Jakob noch ein m al, aber jetzt klang er resigniert, so als hätte er die W ahrheit bereits akzeptiert.
    »Je m and h a t m it aller Macht versucht, von der anderen Seite herüberzugreifen«, sagte der A lte. »Er oder sie … es war schon in i h r. Es hatte begonnen, sich in ihr zu m anifestieren.«
    Er schüttelte den Kopf. »Was für ein unglaublich starker
    W ille da f ür nötig i s t! So starke … G e f ühle.«
    Chiaras Herzschlag raste. Durchat m en. Ruhig werden. W i eder du selbst werden.
    Jakob stieß einen Laut aus, als m üs s te er sich übergeben. Aber irgendwie gelang es ih m , sich unter K o ntrolle zu halten.
    Diandra hatte aufgehört zu weinen. Sie atmete jetzt ruhiger. Chiara hatte den furchtbaren Verdacht, dass sie etwas Derarti g es n i cht zum ersten Mal durchge m acht hatte.
    Die Schuld drückte auf Chiaras Schultern wie Bleigewic h te. Sie hatte das getan. Es war ihr Kontakt gewesen, ihr Ruf ins Jenseits, den das Mädchen  aufgenommen hatte.
    »Es ist vorbei«, sagte der alte Mann. »Es wird ihr gleich besser gehen. Machen S i e sich keine Sorgen.«
    »Keine … Sorgen ? « Sie spü r te ein hysterisc he s Lachen in sich auf s teigen, a b er es blieb ihr als Kloß im Hals stecken.
    Der Alte hielt das Di n g aus Dia n dras Mund jet z t in beiden Händen, hob es sich vors Gesicht, betrachtete es genauer.
    »Sie wissen, was das ist, neh m e ich an«, sagte er nachdenklich, ohne einen von ihnen anzusehen. Chiara hielt im m er noch Diandras Hand. Die Finger der Kleinen lagen blutleer um ihre eigenen, wie festgekrallt. Sie schwor sich zu warten, bis das Mädchen sie von sich aus losließ.
    »Ein Knochen«, brachte Jakob hervor. Chiara schloss die Augen.
    »Ganz recht«, sagte der Alte. »Der Oberar m knochen eines erwachsenen Menschen.«
     
     
    *
     
     
    Sie schwiegen beide, bis sie den W a gen erreichten. Chiara f ühlte sich m i serabel. S i e l i eß sich auf den Beifahrersitz fallen und sah helle L i chtspir a len hinter ihren Lidern, glühende Wendelpfade in eine bodenlose Tiefe.
    Jakob fädelte das Automobil in den spärlichen Verkehr auf dem A l exander p latz ein. Das S cheunenviertel blieb hinter ihnen zurück. Das Fah r zeug klapperte, als es die Straßenbahnschienen überquer t e. Ein paar b eleuc h t ete Schilder warben für dubiose Hotels und Absteigen, aber es waren nur n och wenige Menschen u nterwegs. M itternac h t  war bereits vorüber. Es hat t e zu regnen begonnen, feine Schauer, die die L i chter zu regenbogenfarbenen Schlieren verz e rrten.
    Chiara wollte reden, woll t e seine Erklärungen hören, natürliche, logische Erklärungen. A ber sie brachte nicht die Kraft auf, die Ereignisse in dem Z i mmer erneut heraufzubeschwören. Mit der Verzweiflung eines Menschen, der sich in einer fremden Sprache nicht ausdrücken kann, rang sie um W orte, um Deutungen, fand aber nur Leere.
    »Jakob ? «
    Er nickte, versunken in seine eigenen Grübeleien und  Zweifel.
    »Als du zum ersten Mal dort h in gegangen bist, m it wem wollte s t du da sprec h e n ?«
    Jakob sah sie nicht an, starrte nur auf die Regentropfen auf der Scheibe. Er steuerte den W agen m it der Sicherheit eines Sc h l afwandlers. D i e U m gebung schien er gar nicht wahrzuneh m en.
    »Mit je m and, der … m i r etwas bedeutet hat.«
    Sein Zöge r n ver r i e t i h r, d a ss er nicht darüber reden wollte. Aber lieber nahm sie in Kau f , ihn zu verärgern, als weiter d i eses gespensti s che Schwei g en zu ertra g en.
    »Erzählst du’s m i r ? «
    Er wartete m it einer Antwort, bis sie fast den Fluss erreicht h atten. Zum ersten Mal fiel ihr auf, da s s er ei n en U m weg fuhr, nicht die direk t e S t rec k e zu ihrem Hotel.
    »Sie war eine Freundin. Sie ist gestorben. Das ist alles. Nachdem ich im m er wieder von diesem Haus gehört hatte, bin ich eines Abends schließlich selbst hingefahren. Der alte Mann führte m i ch zu

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