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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ver m utet, dass er von Dingen wie Telepathie und Hellseherei sprach, Begriffen, die ab und an durch die Zeitungen geisterten. Als sie ihre V er m utung aussprach, hatte er den Kopf geschüttelt. »Nichts so Konkretes. Die Veranlagungen dieser Mädchen und Jungen sind anders … und schlim m er. Sie sind Medien. Sie hören die Stimmen der Toten.«
    » W ie diese Fra u ?«
    »Die Kinder sind hier, da m it ihnen das gleiche Schicksal erspart blei b t .«
    Ihr zw e i fel n der Blick m usste ihm aufgefallen sein, denn er fügte hinzu: »Ich weiß, ich weiß … W arte einfach ab.«
    » W arum weiß Berlins g e f ragte s t er S chauspi e lle h rer v o n solchen Di n gen?« Sie h atte ironisch klingen wollen, aber ihre Stim m e spielte nicht m it.
    » W eil er von so vielen s e iner Schüler und Schülerinnen davon gehört hatte, dass er eines Tages beschloss, es ein m al selbst zu versuchen.«
    »Mit den Toten zu reden ? «
    »An einer S eance teilzuneh m en. Und wenn schon, dann an einer richtigen.«
    Danach hatte sie ihm n i cht m ehr v i el entlocken können. Er schwieg beharrlich über das, was er während der Beschwörung erlebt hatte, doch es musste etwas gewesen sein, das ihn überzeugt hatte.
    Jetzt standen sie an der H i ntertür des Hauses, und Jakob betätigte einen Klopfer, dessen ro s tige Sc h arniere m ehr  Lärm verursachten als die Metallschläge auf dem Holz d e r  Tür.
    »Du denkst wirklich, dass das ei n e gute Idee ist? Um diese Uhrzeit?«
    » W enn es dir hilft …« E r ließ den R est des Satzes offen, und ihr gefiel nicht, dass er da m it ihr die Verantwortung zuschob. Es war sein Einfall gewesen, nicht ihrer.
    Er klopfte ein zweites Mal, ehe sie i h n am Ä r m el packte und fortzie h en wollte. »K omm, lass uns versc h winden. Es ist viel zu spät. Außerdem …«
    »Ja ? «, fragte eine m ännliche Stim m e hinter der T ür. Resigniert ließ sie seinen A r m wieder los.
    »Jakob Tiberius. Sie kennen m i ch.«
    Eine Pause, dann: » S ie sind nicht allein.«
    »Nein, eine Freundin ist bei m i r.«
    War sie das, eine Freundi n ? Sie fand keine überzeugende Antwort darauf. Aber sie fühlte sich wohl in seiner Nähe und hoffte, dass es u m gekehrt ebenso war.
    Ein Schlüssel wurde gedreht, dann ging die Tür auf. Ein Gesicht erschien, alt, a b er gepflegt. Der Mann trug einen Anzug und wirkte sehr viel reinlicher, als die U m gebung ver m uten ließ. Seine Stim m e hatte den Hauch eines jiddischen Akzents, aber sie w a r nicht sicher, ob das etwas über seine Herkunft verriet od e r nur über die Zahl seiner Jahre hier im Scheunenviertel.
    Der Gang hinter der Tür war erleuchtet. Ein süßlicher Geruch schlug ihnen entgegen, wie von frisch gebackenen Plätzchen. Links führte eine Treppe an der Wand nach oben, eine geschlos s e n e Tür daru n t er war v e rm utlich d e r Zugang zum Keller.
    An den Wänden hingen Bilder von Kinderhand, m anches Kritzeleien, anderes erstaunlich gelungene
    Zeichnungen. Viele zeigten Münder. Offene, sprechende  Münder.
    Der Mann musterte s i e s kepti s ch, aber nicht feindselig.
    »Guten Abend«, sagte er. »Sie kommen früh.« Früh ? , dachte sie.
    »Ich weiß«, erwiderte J a kob. »Tut mir Leid. W i r können noch warten, wenn Sie wollen.«
    »Ach was, nun sind Sie ja ein m al hier.« Er wandte sich wieder an C hiara. » Ihr Na m e, bitte . «
    »Chiara Mondschein.«
    Seine Augen verengten sich für ein, zwei Herzschlä g e. War da W i ederer k ennen in sei n em Blic k ?
    »Jula Mondscheins Schwester«, erklärte Jakob.
    Der Alte nickte. Hatte er einen von Julas Fil m en gesehen?
    »Treten Sie bitte ein.«
    »Danke«, sagte sie.
    Wenn der Mann lächelte, t a t er es nur m i t einem Mundwinkel. Zuerst hielt sie das für eine Form von Zurückweisung, ein B e m ühen um Distanz. Dann aber begri f f sie, dass s e in G esic h t hal bs eitig gelä h m t war. Er hatte eine hässliche N arbe am Hals, wo m öglich eine Kriegsverletzung.
    Er nannte seinen eigenen N a m en nicht, sondern forderte sie m it einer Handbewegung auf, ihm zu folgen.
    Die Stufen waren alt und kn i rschten erbär m lich, als sie hinaufgingen. Auf einer lag eine S t offpuppe. Der Mann ging daran vorbei, oh n e sie zu beachten. Die Puppe k a m Chiara bekannt vor, sie hat t e ein ähnliches Spielzeug schon ein m al gesehen. Ein f l aches Gesicht aus weiß e m Stoff, Haare aus roter W olle, ein kariertes Kleidchen.

Schwarze Knöpfe als Augen. Jäh erin n erte sie s i ch.
    Die Puppe hatte in

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