Das zweite Königreich
englische Krone allein William von der Normandie zustehe und Harold Godwinson gegen die Gesetze der Welt und der Kirche verstoßen habe. Der Papst ging gar so weit, William zu bescheinigen, daß sein Feldzug gegen England ein heiliger Krieg sei, und gab den Gesandten kostbare Reliquien und ein päpstliches Banner mit auf den Heimweg. Nachdem diese eindeutige Parteinahme der obersten Gewissensinstanz der Christenheit bekannt geworden war, ergriffen auch der König von Frankreich und der junge deutsche König und designierte Kaiser für William Partei. So kam es, daß aus allen Teilen Frankreichs und gar aus Deutschland Soldaten in die Normandie strömten, um sich unter dem päpstlichen Banner zu versammeln, bis die normannischen Heerführer schließlich kaum noch wußten, wie sie die ganzen Freiwilligen unterbringen und ernähren sollten. Doch Herzog William verbot strikt jede Form von Plünderung, und die Landbevölkerung blieb unbehelligt von den vielen Soldaten.
Unterdessen wurden die Schiffe an der Mündung des Flusses Dives zusammengezogen, und Ende Juli brach das Heer endlich zur Küste auf, um den Kanal zu überqueren.
»Leb wohl, Wulfnoth.«
»Leb wohl, Cædmon. Und mach kein solches Gesicht. Es ist ja nicht deine Schuld.«
Natürlich hatte der Herzog wiederum verfügt, daß Wulfnoth in Rouen bleiben müsse, damit die Normannen, falls die Eroberung nicht so erfolgreich verlief wie erhofft, weiterhin ein Druckmittel gegen Harold Godwinson in der Hand hielten.
Cædmon nickte bedrückt. »Ich wünschte trotzdem, du kämest mit. Ich … fürchte mich so jämmerlich. Was für eine schreckliche Art, nach Hause zu kommen. In einer feindlichen Armee.«
»Aber du hast William doch gesagt, daß du keine Waffen für ihn führen wirst, oder?«
»Ja, sicher. Trotzdem.«
Wulfnoth legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. »Ich verstehe dich sehr gut. Wenn Männer ein Tauziehen veranstalten, zünden sie zwischen den beiden Lagern ein Feuer an. Wenn William und Harold ihr Tauziehen um England beginnen, wirst du genau in diesem Feuer stehen. Aber sei guten Mutes. Du hast Freunde auf beiden Seiten. Etienne und Roland und Philip gehen mit, nicht wahr?«
Cædmon nickte. »Natürlich. Lucien de Ponthieu auch. Kein Normanne will jetzt zu Hause bleiben, sogar fitz Osbern zieht dieses Mal mit in den Krieg.«
»Ja, das habe ich gehört. Herzogin Matilda und der junge Robert haben alle Vollmacht, in Abwesenheit des Herzogs und des Seneschalls das Herzogtum zu verwalten.«
Im Hof erscholl ein helles Horn.
Wulfnoth warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. »Es wird Zeit. Aber warte noch einen Augenblick.«
Er trat an sein Bett, hockte sich hin und zog etwas darunter hervor, eine helle, neue Lederhülle, in der sich ein birnenförmiger Gegenstand mit langem Hals verbarg. Er streckte sie Cædmon entgegen. »Hier. Denk an mich, wenn du spielst.«
Cædmon riß die Augen auf und warf einen verwirrten Blick zum Tisch, wo Wulfnoths Laute an ihrem angestammten Platz lehnte. »Aber …« Wulfnoth lächelte. »Roger Guiscards Cousin hat sie aus Sizilien mitgebracht, als er über Weihnachten hier war. Ich habe sie ihm abgeschwatzt. Ich wollte sie dir schon eher geben, aber als abzusehen war, daß unsere Wege sich für eine Weile trennen, habe ich mir gedacht, ich schenke sie dir zum Abschied.«
»Oh, Wulfnoth …«
Zögernd und voller Ehrfurcht nahm Cædmon das Instrument entgegen, löste die Kordel und warf einen Blick in die Hülle. Behutsam fuhr er mit einem Finger über die Saiten, und sie seufzten leise. Er schluckte energisch und hob den Kopf. »Ich danke dir.«
Wulfnoth lächelte. »Jetzt beeil dich lieber. Sonst segeln sie ohne dich. Mögest du auf deinem Weg Freunde finden, die Führung der Engel und das Geleit der Heiligen.«
Cædmon umarmte ihn kurz. »Danke. Gott schütze dich, Wulfnoth.« Sein Freund schob ihn energisch zur Tür. »Ich denke, du hast seinen Schutz nötiger. Du und England und mein armer Bruder Harold.«
London, September 1066
Unangemeldet stürmte ein Bote in die Halle, geradewegs auf den kleinen Kreis um den König am Fenster zu. Sein Mantel war grau von Staub, der linke Ärmel seines Gewandes war zerfetzt, ebenso das linke Hosenbein, so als sei er vom Pferd gestürzt, und Blut hatte den Stoff getränkt. Vor Harold Godwinson fiel er auf die Knie. »Mein König …«, keuchte er.
»Dunstan!« rief Ælfric of Helmsby erschrocken aus.
Sein Sohn ignorierte ihn, hatte nur Augen für den König.
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