Das zweite Königreich
beiden aufeinandertreffen lassen, in der Hoffnung, daß sie sich gegenseitig ausmerzen …«
Niemand lachte.
»Wer sagt, Harald Hårderåde und William der Bastard seien die größten Heerführer unserer Zeit, hat einen vergessen: Harold Godwinson«, ereiferte sich sein Bruder Leofwine, der Earl of Kent.
Harold runzelte die Stirn und nickte nachdenklich. »Ja, vielleicht hast du recht. Vermutlich könnte ich es mit jedem von ihnen aufnehmen. Aber mit beiden ?« Er drückte für einen Moment Daumen und Zeigefinger gegen die geschlossenen Lider und schüttelte den Kopf. »Ihr müßt mir verzeihen.«
Sie alle waren erschöpft, nicht nur der König. Den ganzen Sommer über, seit sie vom Bau der normannischen Flotte wußten, hatten sie mit dem Fyrd von Wessex die Südküste bewacht. Völlig umsonst, wie sich gezeigt hatte, und die Soldaten wurden übellaunig, bis schließlich jeden Tag eine Meuterei auszubrechen drohte, weil die scheinbar sinnlose Wache sie von ihren Feldern fernhielt. Es wurde schier unmöglich, Disziplin zu halten. Der König hatte das Fyrd notgedrungen aufgelöst und seine Schiffe zur Überholung nach London befohlen. Doch die meisten waren auf dem Weg dorthin verlorengegangen, abgetrieben und versenkt durch den tückischen Nordwind. Die Thanes und Lords waren ausgelaugt nach ihren langen, fruchtlosen Mühen und voller Sorge, und die verheerenden Nachrichten aus dem Norden hatten die meisten in einen dumpfen Schockzustand versetzt.
Der König trank aus seinem Becher und stellte ihn langsam auf den Tisch zurück. »Seit im April das Himmelszeichen erschienen ist, will nichts mehr gelingen, was ich anfange«, sagte er leise. »Ich frage mich, zürnt Gott mir vielleicht wirklich? Schließlich ist es wahr, was William und der Papst sagen, ich habe meinen Eid gebrochen …«
Die Männer am Tisch schüttelten ihren Trübsinn ab und protestierten einhellig.
»Ein Eid, den Ihr unter Zwang leisten mußtet, Ihr wart doch praktisch Williams Gefangener …«
»König Edward hat Euch auf dem Sterbebett zu seinem Nachfolger ernannt …«
»England braucht einen englischen König …«
Harold hob lächelnd die Hand. »Euer Zuspruch tröstet mich, Mylords. Und er beschämt mich.« Er legte beide Hände auf die Tischplatte und stand auf. »Wir dürfen nicht länger zagen. William wird kommen, sobald es ihm möglich ist, aber noch bläst der Wind aus Norden. Also sage ich, ziehen wir nach Northumbria und verteidigen England gegen die Feinde, die schon hier sind: Harald Hårderåde und, so sehr es mich schmerzt, meinen Bruder Tostig.«
Die Thanes und Earls murmelten erleichtert und trommelten mit ihren Bechern zustimmend auf den Tisch.
Harold lächelte matt. »Waltheof, Ihr versammelt Eure und meine Männer. Ælfric, reitet mit Dunstan nach East Anglia und ruft das Fyrd auf, aber nur die, die sofort einrücken können, wir dürfen nicht auf die Säumigen warten. Wir werden die besten Chancen haben, wenn wir eher nach Northumbria kommen, als die Eindringlinge erwarten.«
Ælfric hatte dafür gesorgt, daß Dunstan zwei Stunden Schlaf bekam, ehe sie aufbrachen. Dann schickten sie nach den Pferden, verließen den Innenhof der königlichen Halle und ritten in östlicher Richtung am Fluß entlang, durch belebte Straßen und vorbei an den Hafenanlagen. Schiffe aus vieler Herren Länder lagen an den Kais, brachten Wein, feine Tuche, Silber oder Handschuhe, und englische Schiffe wurden mit Wolle, Stickereien und Kupfer beladen, die auf dem Kontinent hohe Preise brachten. Ælfric und Dunstan passierten einen dänischen Gewürzfrachter, dessen kostbare Ladung unter den argwöhnischen Blicken der schwer bewaffneten Besatzung gelöscht wurde.
Der Anblick lenkte Ælfrics Gedanken von der bedrohlichen politischen Lage zu seinem großen persönlichen Kümmernis.
»Hast du von ihr gehört?« fragte er seinen Ältesten, unfähig, den Namen seiner Tochter auszusprechen.
Dunstan versteifte sich sichtlich. Von jedem anderen hätte er sich diese Frage verbeten. Dann nickte er widerwillig. »In York reden sie von einem schwarzhaarigen Kerl, halb Däne, halb Norweger, mit einer jungen, englischen Frau. Es scheint, er war über das ganze vergangene Jahr der wichtigste Verbindungsmann zwischen Harald Hårderåde und Tostig. Ich habe versucht zu erfahren, wo sie stecken, aber es war unmöglich.Er ist gerissen wie ein Fuchs, und er hat in York einen Unterschlupf, vermutlich irgendwelche Verwandte. Niemand wollte mir etwas sagen.
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