Das zweite Königreich
sich ein ums andere Mal in die Höhe stemmte, zwanzigmal, dreißigmal, ohne auch nur kurzatmig zu werden, bis Jehan griesgrämig befahl, er solle endlich mit dem Unfug aufhören. Cædmon blieb einen Moment mit dem Gesicht im Schnee liegen, drehte sich dann auf den Rücken und blinzelte lächelnd in den blaßblauen Himmel.
Jehan sah auf ihn hinab. »Öffnet einem die Augen für die Schönheit der Welt, was?«
Cædmon setzte sich abrupt auf und bemühte sich um eine ausdruckslose Miene. Er wußte, Jehan war vor beinah zwanzig Jahren bei der Schlacht von Val-ès-Dunes Williams Feinden in die Hände gefallen, die ihn über ein Jahr lang gefangengehalten hatten. Nicht in einem Verlies, sondern in der Oubliette – dem Ort des Vergessens –, einem modrigen, feuchten Loch unter den Verliesen. Cædmon war überzeugt, kein anderer Mann hätte das überlebt, aber er verspürte nicht die geringste Neigung, Gefangenenanekdoten mit Jehan de Bellême auszutauschen. Vielmehr wünschte er leidenschaftlich, Jehan wäre in der Oubliette verreckt.
Der alte Veteran grinste wissend und machte eine auffordernde Geste. »Jeder holt sich ein Pferd. Und wer als letzter zurückkommt, wird heute abend fasten …«
Cædmon brauchte nicht zu befürchten, daß er hungrig zu Bett gehen müsse. Er war schon lange nicht mehr der letzte gewesen. Er gehörte jetzt mit Etienne fitz Osbern und Lucien de Ponthieu zu den Älteren; Roland Baynard, Roger und Philip waren im vergangenen Sommer auf die Güter ihrer Familien zurückgekehrt, jüngere Söhne aus den normannischen Adelsgeschlechtern waren nachgerückt, und auch Robert, der älteste Sohn des Herzogs, nahm seit einigen Monaten an JehansUnterricht teil. Die herzögliche Würde bewahrte Robert nicht vor Schikane und Schlägen, im Gegenteil, Cædmon kam mehr und mehr zu dem Schluß, daß der bedauernswerte Junge seine Nachfolge als Jehans bevorzugtes Opfer angetreten hatte. Und als Jehan den Sohn des Herzogs endlich da hatte, wo er ihn wollte, Robert blutend und heulend vor ihm im Sand lag, beugte er seinen kugelrunden Glatzkopf über ihn und raunte heiser: »Denkst du, ich tue das aus Freude, Robert? Glaubst du wie all die anderen Schwachköpfe hier, es bereitet mir ein besonderes Vergnügen, ungestraft junge Burschen zu quälen, die ausnahmslos von höherer Geburt sind als ich selbst?«
Robert richtete sich auf, fuhr sich mit dem Unterarm über die blutende Nase und nickte. »Ja. Das glaube ich.«
Jehan grinste zufrieden. »Nun, du hast zweifellos recht«, sagte er leise. »Aber es gibt noch einen zweiten Grund, weißt du.« Er stemmte die Hände in die Seiten und brüllte: »Herrgott, nimm dich zusammen, Robert fitz William, wir ziehen in den Krieg! Das gilt für jeden von euch Jammerlappen. Ihr meint, ich bin die Hölle, ja? Nun, ich schwöre euch, ihr alle werdet euch nach mir zurücksehnen! Und wenn ihr auch nur einen Funken Hoffnung haben wollt zu überleben, dann werdet endlich wach und gebraucht eure Köpfe und hört auf das, was ich euch beizubringen versuche!«
Im März wurde mit dem Bau der Flotte begonnen, und nach allem, was man hörte, ging es gut voran. Jeder von Williams Vasallen war verpflichtet, je nach Größe seiner Ländereien eine bestimmte Anzahl von Schiffen zur Verfügung zu stellen. Es wurde ein hartes Frühjahr für die normannische Landbevölkerung, die Leute mußten nicht nur wie üblich ihre Felder und die ihrer Gutsherren bestellen, sondern zusätzlich Unmengen von Holz schlagen und zu den Sammelstellen schaffen. Dort übernahmen dann Schiffsbauer die Arbeit. Auch nahe Rouen gab es einen Bauplatz, und an windstillen Tagen konnte man das Singen der Hämmer selbst oben auf der Burg hören, oft bis tief in die Nacht.
Am Sonntag nach Ostern stahl Cædmon sich nach dem Abendessen in den Hof hinaus und schlich in Matildas kleinen Garten hinter der Kapelle. Er liebte diesen Ort. Still und friedvoll war es hier; das junge, frühlingsgrüne Gras duftete betörend, und kleine, gelbe Büschel von Narzissen blühten darin. Er warf sich auf den Boden, ließ die Halmesein Gesicht kitzeln, streckte die Arme über dem Kopf aus und sog alles gierig in sich auf.
Dann hörte er ihr helles Lachen: »Aber Cædmon, was tut Ihr denn da?«
Das war der zweite Grund, warum er hierherkam. Es bestand immer die Chance, sie zu treffen. In zwei Jahren war es erst viermal geschehen, doch jedesmal hatte er es vorher genau gewußt.
Er drehte sich auf den Rücken und sah zu ihr auf. Im
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