Das zweite Königreich
dämmrigen Zwielicht schimmerten ihre schwarzen Haare wie ein stiller, nächtlicher See.
»Vermutlich das gleiche wie Ihr, Aliesa. Ich komme an den Ort, der mir hier der liebste ist, um ein paar belanglose Gedanken zu denken.« Er besann sich mit einiger Verspätung der Gebote der Höflichkeit, kam auf die Füße und verneigte sich.
Sie senkte kurz den Kopf, um den schon makellosen Rock ihres moosgrünen Kleides zu glätten. Jedenfalls wirkte es moosgrün im schwindenden Licht. Cædmon war sicher, daß er es noch nie an ihr gesehen hatte. Ihre langen, dichten Wimpern bildeten zwei perfekte Halbmonde, ihr schneeweißer Schwanenhals schien ein schwaches Leuchten auszustrahlen, und er sah ihren Puls darin pochen. Gott, wie rettungslos ich ihr verfallen bin, dachte er ohne alle Bestürzung. Er hatte sich längst an das Gefühl gewöhnt.
»Darf ich mich zu Euch setzen?« erkundigte sie sich.
Er schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Der Rasen ist feucht. Ich hatte irgendwie vergessen, daß wir erst April haben.«
An einer niedrigen Hecke aus Spalierobst stand eine Bank. Er nahm ihre Hand und führte sie dorthin. »Bitte.«
Sie entzog sich eilig seinem Griff. »Wenn uns jemand sieht …«
»Das sagt Ihr jedesmal.«
Sie nickte. »Ich weiß. Einfallslos. Warum kommt Ihr wirklich hierher, Cædmon?«
Er verschränkte die Arme und legte den Kopf in den Nacken. Die ersten Sterne flimmerten am Himmel. »Um Euch zu sehen, Aliesa«, gestand er offen.
Sie lachte. »Sehr charmant.«
Er sah sie wieder an. »Heute vor zwei Jahren bin ich von zu Hause aufgebrochen. Habe meine Eltern, meine Brüder und meine Schwester zum letztenmal gesehen. Ich komme her, um mich zu fragen, wie esihnen allen gehen mag. Das kann ich nur, wenn ich allein bin. Und man ist auf dieser Burg nie irgendwo allein, nur hier.«
Sie erhob sich. »Dann werde ich gehen und Euch zufriedenlassen.« Er nahm wieder ihre Hand. »Nein. Bitte nicht.«
Dieses Mal zog sie ihre Hand nicht gleich weg. Cædmon befühlte sie verstohlen. Glatt und kühl und zerbrechlich, genau, wie er sie in Erinnerung hatte. Er führte sie an die Lippen. Er konnte einfach nicht anders.
Aliesa schrie entsetzt auf.
Cædmon ließ sie los, als habe er sich plötzlich verbrannt. »Verzeiht mir …«
»Seht doch, Cædmon!« fiel sie ihm ins Wort. »O mein Gott, was ist das?« Ihr ausgestreckter Arm wies auf einen Punkt über seiner linken Schulter.
Cædmon wirbelte herum. Dann riß er ebenso entsetzt die Augen auf wie sie. »Heiliger Edmund, steh uns bei …«
Aliesa drängte sich instinktiv an ihn, und Cædmon legte die Arme um sie und vergaß den unheimlichen Schicksalsboten am Firmament. Er sperrte ihn einfach aus, schloß die Augen und fuhr mit den Lippen über ihren Scheitel. »Hab keine Angst«, murmelte er. »Keine Angst.«
»Aber was ist das nur?«
Unwillig schlug er die Augen wieder auf und sah zum Himmel. Ein neuer Stern war plötzlich dort erschienen, stand hoch im Südwesten und ließ alle anderen Himmelslichter vor seiner strahlenden Helligkeit verblassen, selbst den Abendstern. Er zog einen eigentümlichen, milchigen Lichtstreif hinter sich her wie die fliegende Mähne eines galoppierenden Pferdes.
»Wie der Stern von Bethlehem«, murmelte Cædmon.
Aliesa hob die Hand und bekreuzigte sich, rückte aber nicht von ihm ab. »Cædmon … im Kloster sagten sie, vor hundert Jahren hätten die Menschen geglaubt, wenn eintausend Jahre nach Christi Geburt vergangen seien, käme das Ende der Welt. Als es ausblieb, versicherten die Gelehrten, dann müsse es eben ein Jahrtausend nach seinem Tod am Kreuz kommen, aber kommen werde es bestimmt, so stehe es in der Offenbarung. Glaubt Ihr … sie haben sich verrechnet?«
Er spürte eine Gänsehaut auf Armen und Beinen. Es war ein grauenvoller Gedanke. Aber er konnte nicht ernsthaft daran glauben. Er erlag der Versuchung und legte die Linke in ihren Nacken, berührte mit denLippen ihre Wange. »Bestimmt nicht, Aliesa. Es ist ein himmlisches Zeichen, ganz gewiß. Aber nicht das Ende der Welt. Das Ende der Welt kann nicht an einem so lächerlich belanglosen Sonntag wie heute kommen. Die Erde müßte beben, der Himmel sich verdunkeln, all diese Dinge. Das Schlimmste, was heute geschehen ist, war der Aprilschauer nach der Messe.«
Sie lachte atemlos, hob den Kopf und sah wieder hinauf. »Dann denkt Ihr, es ist eine himmlische Warnung gegen Williams unseligen Krieg?« »Ja, das würde ich wirklich furchtbar gerne denken. Aber was ist,
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