Das zweite Königreich
wenn dieser langhaarige Stern auch in England zu sehen ist? Ich meine, den großen Wagen und den Mond sehen wir dort schließlich auch. Also was, wenn er in England auch erscheint? Ein himmlisches Zeichen gegen Harold Godwinsons unrechtmäßige Thronbesteigung? Oder will Gott den Engländern das eine sagen, den Normannen das andere?« Er hob kurz die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Es macht mir angst«, gestand sie leise.
»Mir auch.«
»Werdet Ihr mit Herzog William in den Krieg ziehen, Cædmon?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich werde mit ihm nach England gehen, wenn er sich entschließen sollte, mich mitzunehmen. Aber ich werde keine Waffen für ihn führen. Ich liefe Gefahr, einen meiner Brüder in der Schlacht zu erschlagen. Oder von einem von ihnen erschlagen zu werden. Und ich möchte weder Kain noch Abel sein. – Und was werdet Ihr tun, wenn die Flotte lossegelt und alle normannischen Ritter in den Krieg ziehen, den Ihr, wie ich mich entsinne, prinzipiell verurteilt?« »Das habt Ihr Euch gemerkt?« fragte sie verblüfft. »Wie eigenartig.« »Wieso? Es war ein bemerkenswerter Gedanke.«
»Die wenigsten Männer merken sich, was eine Frau zu ihnen sagt, wußtet Ihr das nicht? Was soll ich schon tun? Ich werde hierbleiben und kein Auge zutun, bis ihr alle wohlbehalten wieder zu Hause seid, und vor meiner Zeit alt und gramgebeugt werden.«
Cædmon war selig, daß sie um seine Sicherheit besorgt war. Er lachte leise. »Vielleicht solltet Ihr das Herzog William sagen. Wenn er eine so fürchterliche Drohung hört, läßt er bestimmt von seinem Vorhaben ab.« Sie machte sich ungeduldig von ihm los. »Ach, Ihr macht Euch immer über alles lustig.«
Er legte leicht die Hände auf ihre Unterarme, damit sie keine allzu große Distanz zwischen sie bringen konnte. »Ihr irrt Euch. Mir graut vor diesemKrieg. Lieber würde ich den Rest meines Lebens hier im Exil verbringen, als unter diesen Umständen heimzukehren.«
Kaum hatte er es ausgesprochen, bereute er seine Offenheit schon. Würde sie ihn jetzt nicht für schwächlich und verzagt halten, für den selbstmitleidigen Jämmerling, der er gewesen war, als er hierher kam? Doch zu seiner Verwunderung rückte sie nicht peinlich berührt von ihm ab, sondern legte für einen winzigen Moment ihre kühle Hand auf seine Wange.
»Ja, ich kann mir vorstellen, wie bitter es für Euch sein muß.«
Als sie die Hand sinken ließ, nahm er sie in seine und legte sie an seine Brust. »Aliesa, Ihr …«
»Aliesa!« ertönte eine Stimme aus Richtung der Kapelle. »Aliesa, bist du hier?«
Cædmon erkannte die Stimme mühelos. Er ließ sie los und verschwand mit einem tollkühnen Hechtsprung hinter dem Spalierobst.
Lucien de Ponthieu kam hinter dem kleinen Gotteshaus hervor und stieß erleichtert die Luft aus, als er seine Zwillingsschwester entdeckte. »Gott sei Dank! Komm mit hinein. Hast du den Stern nicht gesehen? Gewiß ist es gefährlich, jetzt draußen zu sein.«
Aliesa hatte die Linke an die Wange gelegt und fragte sich, ob es wirklich stimmte, daß eben noch zwei warme Lippen darauf gelegen hatten. Sie antwortete nicht.
»Aliesa?« fragte ihr Bruder beunruhigt.
Sie warf einen kurzen, unsicheren Blick auf die Obsthecke. Dann nahm sie sich zusammen. »Ja. Ich komme, Lucien.«
Das seltsame Himmelszeichen hatte alle Leute erschreckt. Eine ganze Woche lang leuchtete es jede Nacht, und hier und da hörte man die Zweifler raunen, es sei eine göttliche Warnung gegen Herzog Williams ehrgeizigen Plan. Doch der Herzog selbst und seine engsten Ratgeber kamen bald zu dem Schluß, es müsse sich um ein Zeichen göttlichen Wohlwollens gehandelt haben, denn die Vorbereitungen des größten militärischen Wagnisses, von dem die Welt je gehört hatte, hätten kaum besser verlaufen können. Der Bau der Flotte ging zügig voran, und im Mai kehrte eine Gesandtschaft aus Rom zurück und brachte wunderbare Neuigkeiten. William hatte diese Abordnung hoher Adliger und kirchlicher Würdenträger zum Papst geschickt, um dort offiziell eine Beschwerde gegen Harold Godwinsons Eidbruch und seine widerrechtlicheThronbesteigung vorzubringen. Ohne jeden Vorbehalt hatte Papst Alexander sich dem Standpunkt der Normannen angeschlossen. Er war ohnehin verstimmt über den neuen König von England, der in Mißachtung päpstlicher Dekrete am exkommunizierten Erzbischof von Canterbury festhielt. Also stattete Alexander Williams Gesandtschaft mit offiziellen Dokumenten aus, die besagten, daß die
Weitere Kostenlose Bücher