Das zweite Königreich
daran lag, daß Cædmon Engländer war. Die meisten Engländer behandelten ihre Frauen natürlich nicht besser als die Normannen, maßen ihnen nicht mehr Bedeutung zu. Doch es gab Unterschiede. So war es in England nicht ungewöhnlich, hatte sie zu ihrer Verblüffung herausgefunden, daß eine Frau als Älteste eines Dorfes in allen wichtigen Fragen das letzte Wort hatte oder eine Witwe die Ländereien ihres verstorbenen Mannes erbte und alleinverantwortlich verwaltete. Nach englischem Recht konnte eine Frau von Stand selbst dann, wenn sie verheiratet war, über ein eigenes Vermögen verfügen. So besaß Cædmons Schwester Hyld beispielsweise ein Gut in Norfolk, das Cædmon ihr übertragen hatte, denn auch wenn das Testament seines Vaters keine Gültigkeit mehr hatte, war Cædmon Ælfrics letzten Verfügungen dennoch gefolgt und hatte seine Schwester ebenso wie seine Brüder nach den jetzt geltenden Gesetzen belehnt, damit sie versorgt waren. Nach englischem Recht konnte Hyld allein über die Einkünfte aus diesem Land verfügen und brauchte sie nicht ihrem Mann zu überlassen. Und mochte der König auch angekündigt haben, diese »heidnischen und widernatürlichen« Gesetze abschaffen zu wollen, war es in England doch kein ganz und gar abwegiger Gedanke, daß eine Frau ein vernunftbegabtes Wesen sein konnte. Manchmal schämte Aliesa sich ihrer Geltungssucht, ihres Mangels anBescheidenheit, die, so betonte der König so gern und häufig, die schönste Zierde einer Frau sei. Sie wußte, daß es ihr daran gebrach. Aber ihr Wissensdurst, ihre Sehnsucht nach Herausforderungen und nach neuen Gedanken war soviel mächtiger, ihrer wahren Natur soviel näher als ihre Betrübnis über diesen Charaktermangel. Die Aussicht, ihr Leben als Etienne fitz Osberns Frau tatenlos verstreichen zu lassen, auf ewig in seinem Schatten, in höfischem, geistlosem Müßiggang und – wie sie schließlich hatte erkennen müssen – obendrein auch noch kinderlos, hatte sie oft in Düsternis gestürzt. Cædmon of Helmsby war ihr von Anfang an wie eine Verheißung auf einen Ausweg erschienen. Er fing an, ihr Kleid aufzuschnüren, aber sie legte ihre Hand auf seine und schüttelte den Kopf. »Es geht nicht, Cædmon.«
»Warum nicht?« fragte er verdutzt. »Schwangerer kannst du nicht werden, oder?« Und sofort verwünschte er sich und biß sich schuldbewußt auf die Unterlippe. »Entschuldige.«
Ihre exquisite Nase kräuselte sich, halb belustigt, halb mißbilligend. Dann küßte sie ihn auf den Mundwinkel. »Der Arzt hat es verboten«, erklärte sie.
Was für ein normannischer Unsinn ist das nun wieder, dachte er ungeduldig, aber gleich darauf war er von Besorgnis erfüllt. »Aliesa, bist du sicher, daß alles in Ordnung ist?«
Sie lachte leise. »Natürlich. Ich bekomme ein Kind, das ist alles. Es ängstigt mich ein wenig, das gebe ich zu, aber dann sage ich mir, andere haben es auch schon überstanden. Gelegentlich.«
»Was ängstigt dich? Daß das Kind blond sein könnte?«
Sie winkte ab. »Oh, das wäre nicht weiter schlimm. Etienne hat mir erzählt, daß er als kleiner Junge blond war. Und seine Mutter war hell, und meine ist es auch. Nein, in der Hinsicht brauchen wir uns nicht zu sorgen, wenn es dir nicht gerade wie aus dem Gesicht geschnitten ist.« »Das wäre in jeder Hinsicht ein Schicksalsschlag. Laß uns lieber hoffen, daß es deine noblen Züge erbt – damit kommt es sicher leichter durchs Leben … Also, was ist es dann, das dich ängstigt?«
Sie wandte ein bißchen verlegen den Kopf ab. »Ach, gar nichts. Du … du kannst dir vermutlich nicht vorstellen, welche Schauergeschichten unter Frauen kursieren. Natürlich erzählen sie sie keiner Schwangeren, aber seit ich weiß, daß ich ein Kind bekomme, sind sie mir alle wieder eingefallen.«
Er legte die Arme um sie und zog sie auf seinen Schoß. Sie schien nichtmehr als eine Feder zu wiegen. »Hab keine Angst«, sagte er leise. »Du bist jung und gesund. Alles wird gutgehen.«
Sie lehnte die Stirn an seine Schulter. »Natürlich wird es das. Ich bin nur ein verzärteltes Pflänzchen und eine alberne Gans, weiter nichts.«
Aber er wußte, das war sie nicht. Er blickte auf ihren feingeschwungenen, langen Hals hinab und sah den Puls darin pochen, rasend schnell. Und plötzlich war er felsenfest überzeugt, daß es irgend etwas gab, das sie ihm nicht sagte, und er spürte förmlich, wie die Furcht sich auch in sein Herz stahl.
Winchester, September 1070
Wider Erwarten hatte
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