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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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Höhe seiner Nasenspitze, aber so tief, daß er vom Ausblick nichts sehen konnte.
    »Möchtest du, daß ich dich hochhebe, Henry?« fragte Cædmon leise. Der blonde Lockenkopf fuhr zu ihm herum, und die Augen, die zu ihm aufsahen, erinnerten Cædmon so sehr an Richards, daß seine Brust sich zusammenzog. Der Prinz nickte stumm.
    Cædmon packte ihn unter den Achseln und stellte ihn auf den Sims. »Da, siehst du? Dort drüben ist das Meer.«
    Der Junge sah auf die tiefblaue See hinaus, auf der die Strahlen der Abendsonne wie Tausende von Edelsteinen funkelten, so daß sie schließlich beide blinzeln mußten.
    »Manchmal träume ich von einem weißen Schiff auf dem Meer«, vertraute Henry ihm leise an.
    »Ja? Und ist es ein prächtiges Schiff? Ein Königsschiff?«
    »Nein.« Er wandte den Kopf ab. »Es ist ein Todesschiff.«
    Cædmon legte ihm die Hand auf die Schulter, und sie sahen sich an, sprachlos.
    »Gehst du mit mir zum Meer hinunter, Cædmon? Ich würd’ es mir gern aus der Nähe ansehen.«
    »Ich kann nicht weiter als bis zur Zugbrücke. Aber wenn du willst, können wir auf die Brustwehr steigen. Von dort hat man einen wundervollen Blick aufs Meer.«
    Henry nickte heftig, und Cædmon hob ihn von der Fensterbank. Nebeneinander gingen sie zur Tür. Odo war mit Leif in ein angeregtes Gespräch über Geschichtsschreibung vertieft, aber er sah sie aus dem Augenwinkel und nickte der Wache unauffällig zu, so daß Cædmon und der Prinz den Raum ungehindert verlassen konnten.
    Schweigend überquerten sie den Hof, stiegen die hölzerne Treppe an den Palisaden hinauf, und wieder hob Cædmon den Jungen hoch und setzte ihn auf seinen Arm, damit er über die angespitzten Pfähle schauen konnte.
    Henry schirmte die Augen mit der flachen Hand ab und spähte hinaus. »Kann man bis zur Normandie schauen?«
    »Nein, leider nicht.«
    »Ist sie so furchtbar weit weg?«
    »Ach was. Bei gutem Wind dauert es nicht länger als von Winchester nach Dover zu reiten.«
    Der Junge sah ihn mit großen Augen an. »Ist das wirklich wahr?«
    »Ich würde dich nie anlügen, Henry.«
    »Ich hab sie gefragt, ob sie traurig ist, daß sie in die Normandie ins Kloster muß.«
    Schlagartig wurde Cædmon bewußt, daß es nicht allein Richards Tod war, der Henry so verstört hatte, sondern daß Aliesas plötzliches Verschwinden ihn vermutlich ebenso hart traf. Von frühester Kindheit an hatte der kleine Prinz an ihr gehangen, war seiner Amme ausgerissen, um Aliesa auf Schritt und Tritt zu folgen, und hatte gejammert, wenn sie nicht bei Hofe war.
    »Was hat sie gesagt?«
    »Sie hat nein gesagt. Weil sie in dem Kloster groß geworden ist und weiß, wie wundervoll der Garten ist. Und sie hat gesagt, sie kann es kaum erwarten, all die vielen Bücher zu lesen. Und meine Schwester Cecile ist mit ihr gegangen. Also war sie nicht einsam. Und Cecile auch nicht.«
    Cecile war vierzehn oder fünfzehn, die einzige der älteren Prinzessinnen, die noch unverheiratet war, denn sie hatte den Wunsch geäußert, den Schleier zu nehmen. Sie war ebenso zierlich wie ihre Mutter und verstand es offenbar ebenso wie diese, sich durchzusetzen. Der König hatte sie jedenfalls nicht gegen ihren Willen in eine politische Ehe gedrängt. Darum hatte Cecile länger als jede ihrer älteren Schwestern am Hof ihres Vaters gelebt, und vermutlich vermißte Henry auch sie. »Und was ist mit dir, Henry? Bist du manchmal einsam? Jetzt, da Aliesa und Cecile fort sind?«
    Henry nickte. »Und Richard«, flüsterte er.
    »Ja. Und Richard.«
    Die großen braunen Kinderaugen füllten sich ganz allmählich mit Tränen, die langsam über die Wangen rollten und auf Cædmons Ärmel tropften. Einen Moment sahen sie sich noch an, dann wandten sie gleichzeitig die Köpfe und blickten wieder aufs Meer hinaus.

Dover, April 1077
    »Sehr schön, Ælfric«, lobte Bruder Oswald. »Jetzt gib das Buch deinem Bruder, zeig ihm, wo du warst, und dann soll Wulfnoth uns die nächsten zwei oder drei Zeilen vorlesen.«
    Folgsam schob der Junge seinem kleinen Bruder den dicken Folianten zu und wies mit dem Finger auf die richtige Stelle. Wulfnoth sah mit gerunzelter Stirn auf die bräunliche Pergamentseite hinab und las stockend: »Auch werden dort Menschen mit Hundeköpfen geboren, die man Cono … Conopoenas nennt. Sie haben Mähnen wie Pferde und Hauer wie Keiler und die Köpfe von Hunden, und ihr Atem ist wie eine feurige Flamme. Dieses Land ist nahe der Städte, die voll irdischer Reichtümer sind, im südlichen

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