Das zweite Königreich
entschieden, der hinzugetreten war. »Denn wir wollen bei der Wahrheit bleiben, und alle normannischenRitter wie auch viele der englischen Housecarls trugen prächtige Rüstungen. War’s nicht so, Cædmon?«
Der Angesprochene saß mit angezogenen Knien auf dem breiten Fenstersims und starrte in den sonnenbeschienenen Hof hinaus. »Sicher, Monseigneur«, murmelte er.
Odo stemmte die Hände in die Seiten. »Hättet Ihr wohl die Güte, mich anzuschauen, wenn ich mit Euch rede, Thane?«
Betont langsam wandte Cædmon den Kopf.
Odo winkte seufzend ab. »Nein, vielleicht lieber doch nicht. Dieser waidwunde Blick geht mir inzwischen doch gar zu arg auf die Nerven. Ich wüßte es wirklich sehr zu schätzen, wenn Ihr Euch ein wenig an dieser schwierigen Aufgabe beteiligen wolltet. Ihr und ich sind schließlich die einzigen hier, die bei Hastings waren. Und gerade auf englischer Seite habt Ihr sicher mehr Details beobachtet als ich. Wie wäre es, wenn Ihr uns ein wenig unterstützen würdet?«
Cædmon erhob sich ohne Eile von seinem sonnenwarmen Fensterplatz und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Andernfalls?«
»Du meine Güte, wie streitsüchtig Ihr seid, Cædmon. Ich bitte Euch lediglich um Eure Hilfe.«
»Vielleicht könnte ich mich für Euren Bilderteppich eher erwärmen, wenn Ihr mich zur Einweihung Eurer Kathedrale mit nach Bayeux nehmen würdet.«
Odo trat einen Schritt näher auf ihn zu, verschränkte die Arme und sah ihn an. »Damit Ihr Euch davonmachen und nach Caen reiten könnt, meint Ihr, ja? Das könnt Ihr Euch aus dem Kopf schlagen! Selbst wenn Ihr je dorthin kämet, die Schwestern haben strengste Anweisung, Euch unter keinen Umständen, ganz gleich unter welchem Vorwand, mit ihr in Kontakt treten zu lassen.«
Cædmon blinzelte fast unmerklich, wandte sich brüsk ab und ließ den Bischof einfach stehen. Im Vorbeigehen sagte er zu den Stickerinnen: »Ladies, die Farbe, die Ihr jetzt vor allem braucht, ist Rot.«
Die Wache an der Tür versperrte ihm den Weg. Cædmon blieb mit gesenktem Kopf stehen. Über seine Schulter hinweg wechselte der Soldat einen Blick mit Odo. Der zögerte einen Moment, ehe er mit einem ärgerlichen Wink seine Erlaubnis erteilte. Die Wache öffnete die Tür, ließ Cædmon höflich den Vortritt, folgte ihm aber dicht auf den Fersen und begleitete ihn bis zu seinem Quartier. Nachdem Cædmon eingetreten war, zog der Mann die Tür zu, verriegelte sie und bezog davor Posten.Cædmon ging langsam ans Fenster, das viel zu klein war, um hindurchzuklettern, selbst wenn es nicht im dritten Stock gelegen hätte. Er sah auf den Ausschnitt des Innenhofs und der Palisaden hinab, die ihm inzwischen in jeder noch so kleinen Einzelheit vertraut waren, dann hob er den Blick und starrte aufs Meer, das wie ein weißgefleckter blauer Teppich in der Ferne lag. Ein kleiner werdender Punkt bewegte sich auf den Horizont zu. Jeden Tag überquerten Schiffe von Dover aus den Kanal, segelten nach Flandern, Dänemark, den deutschen Nordseehäfen oder in die Normandie. In seiner Phantasie war Cædmon immer an Bord, war aus diesem zugegebenermaßen komfortablen Gefängnis entkommen, unbemerkt zum Hafen hinuntergelangt und hatte den erstbesten Handelssegler bestiegen. In seiner Phantasie hatte das Blatt sich endlich zu seinen Gunsten gewendet: Der Handelssegler brachte englische Wolle nach Fécamp oder englisches Leder nach Dieppe, wo er mühelos im Hafengewimmel untertauchte, ein paar Meilen zu Fuß lief, ehe er einem Bauern ein Pferd stahl und nach Caen ritt …
Stundenlang beschäftigte er sich manchmal mit diesen Träumereien. Er konnte nicht essen, nicht beten und nicht schlafen, er konnte nicht einmal die Laute spielen. Das einzige, was ihn aus seiner Lethargie zu reißen vermochte, waren der Anblick der See und die Bilder, die er heraufbeschwor. Er wußte, daß er sich in geradezu schändlicher Weise gehen ließ. Nur fiel ihm einfach nichts ein, wofür es sich lohnen könnte, sich zusammenzureißen. Er erinnerte sich, daß er nicht hatte sterben wollen, als er krank war. Aber dieses Leben wollte er auch nicht.
Hyld machte einen Inspektionsrundgang in den umliegenden Räumen, wo je vier oder fünf Frauen an den übrigen fünf Teilstücken des Teppichs stickten, die bereits fertig entworfen und vorgezeichnet waren. Im großen und ganzen war sie zufrieden. Nur ihre Freundin Gunnild, die sie aus Helmsby mit hergebracht hatte, hatte sie zum wiederholten Male bitten müssen, ein fertiges Stück
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