Das zweite Königreich
Äg … Ägypten. « Mit großen Augen sah er zu ihrem Lehrer auf. »Gibt es die wirklich? Menschen mit Hundeköpfen und Drachenatem?«
Oswald hob die mageren Schultern. »Ich weiß es nicht, Wulfnoth. Wir glauben, daß dies eine Übersetzung eines sehr alten Reiseberichts ist, den vor langer, langer Zeit ein Grieche verfaßt hat, der den Orient bereiste. Ob er all diese Wunderdinge wirklich gesehen hat und ob es sie noch gibt … Wer kann das wissen? Gib das Buch deinem Vater. Cædmon, du bist an der Reihe.«
Cædmon nahm Wulfnoth das schwere Buch aus den Händen, fand die Stelle mühelos und las: »In einem gewissen Land werden Menschen geboren, die sechs Fuß groß sind. « Er sah kurz auf und bemerkte: »Viel kleiner ist der König auch nicht.« Dann fuhr er fort: »Sie haben Bärte bis zu den Knien, und das Haar wächst ihnen bis auf die Füße. Man nennt sie Homodubii, das heißt die Menschen des Zweifels, und sie leben von rohem Fisch, den sie essen. «
Bruder Oswald sah ihn lächelnd an und schüttelte langsam den Kopf. »Cædmon, Cædmon. Wenn mir das jemand vor fünf Jahren gesagt hätte, ich hätte es nicht geglaubt.« Er stand von seinem Schemel auf und breitete die Arme aus. »Ihr seid allesamt in Gnaden entlassen. Ich bin sehr zufrieden.«
Seine vier Schüler – drei kleine und ein großer – lächelten stolz und erhoben sich ebenfalls. Ælfric, Wulfnoth und Prinz Henry stürmten in den Hof hinaus, um sich nach dem langen Stillsitzen auszutoben. Cædmon folgte ihnen langsamer, holte seine Laute und setzte sich ebenfalls in die Frühlingssonne, um ein bißchen zu spielen und den Jungen zuzuschauen.
Er strich das verblichene grüne Seidenband glatt, das er Aliesa vor Jahren abgeschwatzt und an den Hals seiner Laute geknotet hatte, befühlte es einen Moment und dachte an sie. Und als er zu spielen begann, fiel ihm Wulfnoth ein. Nicht sein Sohn, der keine zehn Schritte entfernt mit seinem großen Bruder und dem Prinzen um einen kleinen Lederball rangelte, sondern sein Freund in Rouen, mit dem ihn auf einmal wieder so vieles verband. Genau wie Wulfnoth war er ein Gefangener im goldenen Käfig. Genau wie Wulfnoth hatte er entdeckt, welch ein wirksames Heilmittel das geschriebene Wort gegen Eintönigkeit und Melancholie sein konnte, wie faszinierend es war, sich diese Welt Buchstabe für Buchstabe zu erobern, um sie schließlich zu beherrschen und in sie einzutauchen, wenn die Wirklichkeit gar zu grau und trostlos schien. Vor allem im Winter hatten Bruder Oswalds Bücher ihm über manch düsteren Tag hinweggeholfen.
Und genau wie Wulfnoth spielte er die Laute, um sich seiner Melancholie und seinen Sehnsüchten zu ergeben. Er konnte stundenlang spielen und sich erinnern, sich vorstellen, wo Aliesa jetzt war und was sie tat. Es hatte eine Zeit gegeben, da er sich gewünscht hatte, entweder sie oder er wäre tot, weil er es einfach nicht aushielt, in derselben Welt und doch von ihr getrennt zu sein. Besonders große Fortschritte hatteer auf diesem Gebiet immer noch nicht gemacht, er trug es nicht duldsam. Aber er war froh, daß sie beide noch lebten.
Bruder Oswald war in den Hof hinausgekommen, sah sich einen Moment suchend um und trat zögernd näher, als er Cædmon auf der untersten Stufe der Treppe zur Brustwehr entdeckte.
Cædmon winkte den kleinen Mönch näher und rückte beiseite, damit er neben ihm Platz nehmen konnte. Schweigend sahen sie den Jungen eine Weile beim Ballspiel zu.
»Wunderbare Söhne, Cædmon«, bemerkte Oswald schließlich. »Alle beide.«
»Danke.«
»Was für eine gute Idee von deiner Schwester, sie herzuschicken.«
Cædmon nickte. »Ja. Sie tun Henry gut. Und mir.« Er streckte die Beine aus und stellte die Laute behutsam ans Treppengeländer. »Es ist so ganz anders als mit Richard, weißt du. Richard war nur fünf Jahre jünger als ich. Sicher, ich war sein Lehrer, aber im Grunde sind wir trotzdem zusammen aufgewachsen. Henry wächst mit meinen Söhnen auf.«
»Richard war dir näher?«
»Auf jeden Fall. Aber ich glaube …« Was er glaubte, war, daß er es ohne Henry nicht geschafft hätte. Daß Gott ihm diesen verstörten kleinen Jungen geschickt hatte, der vielleicht noch unglücklicher gewesen war als er selbst, damit sie sich gegenseitig aus dem finsteren Tale führten. Doch solche Dinge sprach man nicht aus. »Nun, vermutlich ist nicht so wichtig, was ich glaube. Henry ist Richard in vielen Dingen ähnlich.«
»Und du liebst ihn sehr, ich weiß. Aber du
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