Das zweite Königreich
zu beurteilen.«
Erik starrte aufs Meer und nickte. Dann wechselte er unvermittelt das Thema. »Wir gehen fort aus York.«
»Tatsächlich?«
»Hm. Wir haben es zweimal wieder mit aufgebaut. Jetzt liegt es wieder in Schutt und Asche. Und dieses Mal waren es nicht die Normannen, sondern meine eigenen Landsleute, die es verwüstet haben. Wenn du Hyld und die Kinder nicht rechtzeitig nach Helmsby geholt hättest, wäre ich vielleicht nur zu drei Gräbern heimgekehrt. Du hattest recht, weißt du. England ist normannisch geworden. Aber die Menschen im Norden werden sich nie damit abfinden. Die einen paktieren mit Malcolm von Schottland, die anderen blicken nach Dänemark. York liegt immer zwischen Hammer und Amboß. Und ich will nicht, daß meine Söhne dort aufwachsen.«
Cædmon sah ihn an. »Was wirst du tun?«
»Das kommt darauf an. Ich habe Geld, Cædmon. Ziemlich viel. Ich besitze drei Schiffe, zwei habe ich vollbeladen mit kostbaren Pelzen aus Grönland heimgebracht. Die Pelze sind verkauft, und ich … ersticke beinah in Geld. Ich könnte nach London gehen. Die Stadt wird immer reicher, sie ist ein guter Markt für Pelze. Und es war bestimmt nicht meine letzte Grönlandfahrt. Die Menschen dort haben nichts von dem, was uns selbstverständlich ist, keine Wolle, kaum Holz, sie haben nicht einmal Brot, denn man kann dort kein Korn anbauen. Für all diese einfachen Dinge sind sie bereit, ein Vermögen zu zahlen. In Pelzen. Das ist das einzige, was sie im Überfluß besitzen. Robben, Füchse, Bären, was du dir nur denken kannst.«
»Was sind es für Menschen? Wikinger?«
»Ja. Norweger.«
»Es muß ein karges Leben sein, das sie fristen.«
»Das ist es.«
»Ihr werdet also nach London ziehen? Das beruhigt mich. Es ist auch nicht so schrecklich weit weg.«
Erik fuhr sich über den Bart und nickte. »Das ist eine Möglichkeit, ja. Oder wir gehen fort aus England. Zurück nach Haithabu.« Er wandte den Kopf und sah Cædmon direkt an. »Wenn du mitkommen willst. Ich könnte dich hier rausholen, weißt du.«
Cædmon erwiderte seinen Blick sprachlos.
»Ich habe mir alles genau überlegt«, fuhr Erik leise fort. »Ich könnte mit drei, vier Karren als fahrender Händler hierherkommen. Nicht einmal der fromme Bruder würde mich wiedererkennen. Ich bleibe einen Tag lang, und jede Magd und jeder Soldat dieser Burg wird sich um meine Karren drängen, es gibt ein wildes Durcheinander. Kein Problem, dich und deine beiden Söhne in dem ganzen Gewirr auf einem der Karren zu verstecken. Und dann runter zum Hafen und übers Meer.«
»Übers Meer …«, wiederholte Cædmon versonnen und atmete tief durch. Er dachte lange darüber nach. Er stellte sich vor, wie es wohl wäre. Mit Hyld und ihrer Familie und seinen Söhnen in der Fremde zu leben, an einem der größten Handelshäfen der Welt. Vermutlich könnte er mit Erik in die weite Welt hinausfahren, vielleicht eines Tages selbst ein Schiff kaufen und führen. Ein völlig neues Leben beginnen. Die Vorstellung hatte durchaus ihre Reize. Doch schließlich schüttelteer den Kopf. »Ich bin dir sehr dankbar für dein großzügiges Angebot, Erik. Aber ich kann nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich würde nie zulassen, daß du deine Familie meinetwegen ins Ungewisse führst.«
Erik winkte ungeduldig ab. »Es wäre keineswegs so ungewiß. Ich bin in Haithabu aufgewachsen. Es ist ein guter Ort, glaub mir. Entgegen weitverbreiteter Irrlehren sind die Leute dort getauft – jedenfalls die meisten –, es ist nicht kälter als hier, und wir haben auch keine Eisberge hinter den Häusern. Es herrscht seit langem Frieden mit Norwegen, man muß nicht wie hier jeden Tag mit dem Einfall feindlicher Schiffe rechnen. Und wenn du mit uns gingest, müßte das nicht zwangsläufig bedeuten, daß du sie nie wiedersiehst, weißt du.« Cædmon wandte hastig den Kopf ab, aber Erik fuhr unbeirrt fort: »Wir warten ein halbes Jahr, bis Gras über die Sache gewachsen ist, und dann holen wir sie aus dem Kloster. Ihr könntet in Frieden zusammen leben, niemand in Dänemark schert sich um den Zorn eines normannischen Königs oder seiner Vasallen. Ihr wärt in Sicherheit.«
Cædmon versuchte, sich Aliesa in einem Kaufmannshaus vorzustellen, in einer lärmenden Hafenstadt voller Raufbolde und Hurenhäuser. Nur mit Mühe versagte er sich ein wehmütiges Lächeln. »Nein, Erik, es ist ausgeschlossen.«
»Aber warum nur?« fragte sein Schwager verständnislos.
Cædmon schüttelte den Kopf. »Ich bin einmal
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