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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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wieder aufzutrennen, weil es nicht sorgsam genug gestickt war. Sie zog ernsthaft in Erwägung, Gunnild nur noch die Randmuster der Borte sticken zu lassen, denn ihre Figuren sahen alle wie mißgestaltete Gnome aus, Normannen ebenso wie Engländer.
    »… nicht mehr lange dauern, bis ich die Geduld mit ihm verliere«, hörte sie den Bischof grollen, als sie in sein privates Gemach über der Halle zurückkam.
    Er war allein mit Bruder Oswald; die fleißigen Stickerinnen machten eine wohlverdiente Pause und waren in den Hof hinuntergegangen, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Hyld nahm ihren pfeilspitzen Kohlestift wieder auf, beugte sich über die halbfertige Reitergruppe und sagte beiläufig: »Wenn Ihr ihn wieder einsperrt, könnt Ihr die Bilder der glorreichen Schlacht von Hastings selber sticken, Monseigneur.« Odo seufzte tief und schenkte sich einen Becher Wein ein. »Davon ist ja keine Rede. Ich kann nur einfach nicht begreifen, wie ein Mann wegen einer Frau in solche Düsternis versinken kann.«
    »Nein, wie auch«, bemerkte sie spitz. »Eure Leidenschaft verzehrt sich immer so schnell, daß sie längst ausgebrannt ist, ehe irgendwelche tieferen Gefühle sich entwickeln könnten.«
    Sie verbrachten seit zwei Monaten beinah jede Stunde des Tages zusammen, und die gewaltige Aufgabe, die sie sich gesetzt hatten, schuf eine ungewöhnliche Vertrautheit. Inzwischen kannten sie einander recht genau. Hyld war auch keineswegs verborgen geblieben, daß der Bruder des Königs sie gern der langen Reihe seiner Eroberungen hinzugefügt hätte. Behutsam, aber entschieden hatte sie ihn wissen lassen, daß das nicht in Frage kam. Und obwohl oder auch gerade weil sie ihn abgewiesen hatte, war Odo ihr freundschaftlich verbunden und ließ sich von ihr Dinge sagen, die er anderen nie nachgesehen hätte.
    »Und gerade Cædmons Beispiel zeigt, daß ein Mann gut beraten ist, keiner Frau in die Falle zu gehen«, konterte er ungerührt.
    »Ein Bischof ist vor allem gut beraten, sich überhaupt nicht mit Frauen einzulassen«, raunte Bruder Oswald der nackten Männerfigur zu, die er gerade zeichnete.
    Hyld schaute ihm über die Schulter und errötete leicht, als sie die gewaltige Erektion der Figur sah. »Bruder Oswald!« rief sie schockiert. »Man muß sich wirklich fragen, in welche Richtung Eure Phantasie schleicht. Denkt doch wenigstens an die armen Schwestern, die die Stickerei ausführen müssen.«
    Er trat einen Schritt zurück, legte den Kopf schräg und betrachtete sein Werk. »Zu groß? Na schön, noch ist es nicht endgültig.« Er rieb mit dem Finger über die dünne Linie, bis das Prachtstück verschwunden war. Dann warf er sein Kohlestück achtlos auf den Tisch und streckte sich. »Ich glaube, ich brauche eine Pause.«
    Er setzte sich auf den Fenstersims, zog ein Bein an und verschränkte die Arme darauf. »Vielleicht solltet Ihr Cædmon wenigstens nach Hausereiten lassen, Monseigneur. Jetzt beginnt die Ernte, und außerdem baut er doch eine Kirche. Er hätte so viel zu tun …«
    »Es ist ausgeschlossen, Bruder«, unterbrach Odo ungeduldig. »Nicht einmal wenn er mir sein Wort gäbe, Helmsby nicht zu verlassen, könnte ich ihm trauen. Er ist einfach unberechenbar, wenn es um Aliesa geht.«
    »Ich glaube, Ihr begreift beide nicht, was in ihm vorgeht«, sagte Hyld. »Wie einsam er wirklich ist.«
    »Aber er hat es immer gewußt, Hyld«, entgegnete Odo. »Er hat gewußt, daß das eines Tages passieren würde und daß er seinen Freund dann ebenso verlieren würde wie seine Geliebte.«
    »Was soll ihm das helfen, daß er es gewußt hat? Wenn ein Dieb ein Goldstück stiehlt, weiß er, daß der Sheriff ihm die Hand abhacken läßt. Macht das Wissen den Verlust erträglicher? Oder den Schmerz?«
    »Nein«, räumte Odo ein.
    »Und Ihr vergeßt den Prinzen«, fuhr sie fort und mußte einen Augenblick überlegen, bis ihr der Name einfiel. »Richard.«
    Odo senkte den Kopf und nickte. »An dem Verlust tragen wir alle schwer.«
    »Ja, aber Herrgott noch mal … Cædmon hat sie alle gleichzeitig verloren! Versteht Ihr das denn nicht? Er steht mit völlig leeren Händen da. Ich weiß, daß Ihr ihm sein Verhältnis mit Aliesa de Ponthieu nicht wirklich verübelt, Monseigneur, das … ähm … könnt Ihr Euch gar nicht leisten. Also habt ein bißchen mehr Geduld mit ihm und übt Nachsicht, bis er wieder Boden unter die Füße bekommt.«
    Odo sah hingerissen in die tiefblauen Augen, die sich im Zorn noch um eine Schattierung

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