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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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warf er einen flüchtigen Blick über die Schulter. »Cædmon, ich denke, der Brief kann warten, bis die Brüder von der Vesper kommen. Erweist uns die Ehre und gesellt Euch wieder zu uns.«
    Oh, William, warum tust du das? fragte er sich verständnislos, kehrte mit butterweichen Knien an den Tisch zurück und sank auf seinen Platz zwischen den Prinzen, Etienne schräg gegenüber.
    Er hätte später nicht zu sagen vermocht, worüber gesprochen wurde, und vermutlich war es ein Glück, daß er die Lage bereits kannte und genau wußte, was der König vorhatte. Er starrte blicklos auf eine breite Kerbe in der Tischplatte vor sich, sah aus dem Augenwinkel, daß Etienne ihn keines Blickes würdigte, und fühlte sich sterbenselend.
    Das allgemeine Stühlerücken verkündete ihm irgendwann, daß die Beratung beendet war und der König sie entlassen hatte, und er stand mit gesenktem Kopf auf und erreichte die Tür als erster. Hastig trat er auf den eisigen Korridor hinaus und floh die Treppe hinab, über den verschneiten Burghof und in den kleinen Garten hinter der Kapelle. Hier war er sicher. Niemand kam im Winter je hierher, niemand außer ihm.Cædmon verbrachte beinah jeden Tag ein paar Minuten in seiner wohltuenden Winterstille, um die drückende Stimmung, die auf der Halle lastete, für ein Weilchen abzustreifen, vor allem aber, um sich zu erinnern. Es war der einzige Ort, wo er sich Aliesa nahe fühlte, wo die Entfernung, die sie trennte, nicht unüberwindlich schien. Er ließ sich auf die Knie fallen, strich sacht mit den flachen Händen über den pulvertrockenen Schnee und entsann sich gründlich, gab sich einer regelrechten Erinnerungsvöllerei hin, wie er sie sich nur höchst selten gestattete. Aber heute abend war es unvermeidlich. Er mußte es tun, um sich wieder aufs neue zu vergegenwärtigen, wie es überhaupt zu all dem gekommen war, warum es so hatte enden müssen und daß es den Preis wert gewesen war. Vor allem deswegen. Er hatte lange gebraucht und hart gekämpft und manchmal erbärmlich gelitten, ehe er zu dieser Einsicht gekommen war, und in das Jammertal wollte er nicht zurück. Darum kniete er also bei eisiger Kälte im Schnee und dachte an den Tag in Beaurain, an den Falken, den sie geküßt hatte, dann an ihr Wiedersehen hier, an genau dieser Stelle, wo sie sich in den Finger geschnitten und er Moos auf die blutende Wunde gedrückt hatte, und er wußte noch ganz genau, wie ihre schlanke, zierliche Mädchenhand sich angefühlt hatte. Eines nach dem anderen ließ er die vertrauten Bilder wieder aufleben, und er staunte nicht zum erstenmal darüber, wie heftig das Sehnen war, das ihn überkam, ihre Abwesenheit eine fast körperliche Qual. Er schlang die Arme um den Oberkörper, so als mime er eine innige Umarmung, wiegte sich sanft vor und zurück, ohne es zu merken, und dann traf ihn ein harter Gegenstand am Hinterkopf, er fiel mit dem Gesicht in den Schnee und spürte gar nichts mehr.
     
    Er wachte mit einem gewaltigen Brummschädel auf und wußte sofort, daß er in Wulfnoths Bett lag, denn er erkannte den Raum an seinem Geruch nach Talglichtern und Bücherstaub und hörte leise Lauteklänge in der Nähe. Irgendwer hatte ihn bis ans Kinn zugedeckt, aber er schlotterte trotzdem. Es kam ihm vor, als sei ihm in seinem ganzen Leben noch nie so kalt gewesen.
    »Ich glaube, er wird wach.« Es war Eadwigs Stimme.
    »Gut«, antwortete Wulfnoth. »Versuch, ihm den heißen Wein einzuflößen.«
    Cædmon spürte eine kräftige Hand im Nacken und schlug die Augen auf. »Eadwig …«
    »So ist es, Bruder. Hier, trink.«
    Cædmon hob abwehrend die Hand und legte sie leicht auf Eadwigs Ärmel. Dann richtete er sich auf, vergrub stöhnend den Kopf in den Händen und zog sich die Decke wieder bis zu den Schultern hoch. Ungläubig stellte er fest, daß seine Zähne klapperten. »Was ist passiert?« Eadwig hielt ihm den Becher hin. »Du mußt das trinken, Cædmon, sonst wirst du todkrank.«
    Cædmon nahm das Tongefäß in beide Hände und verzog das Gesicht, weil es zu heiß war, setzte es aber an die Lippen und nahm vorsichtig einen kleinen Schluck. Sein Bruder hängte ihm eine weitere Decke über die Schultern.
    Wulfnoth stellte das Instrument beiseite, stand vom Tisch auf und kam zu ihnen herüber. »Tu, was Eadwig sagt, Cædmon. Es ist fast Mitternacht. Du hast stundenlang im Schnee gelegen.«
    Erschrocken nahm Cædmon einen tiefen Zug und verbrannte sich fürchterlich die Zunge. »Gott verflucht … Warum befinde

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