Das zweite Königreich
komischen, krummbeinigen Gang und seinen Glatzkopf, über die Schnippchen, die sie ihm manchmal geschlagen hatten. Und sie erinnerten sich an die Überfahrt auf der Mora und an Hastings, an die Krönung und die guten Jahre voll großer Taten danach, als sie das Ihre dazu beigetragen hatten, England neu zu ordnen. Wie stolz sie gewesen waren. Und wie unschuldig.
Flegelhaft zogen sie über Lucien de Ponthieus Einarmigkeit und Roland Baynards absolute Humorlosigkeit her, und Etienne entsann sich genußvoll der vielen schönen Frauen, deren Gunst er errungen hatte. Er war in Windeseile betrunken. Seine Augen wurden trüb, seine Stimme schleppend.
»Verflucht, Cædmon, ich kann dich kaum noch erkennen«, sagte er schließlich mit einem verschämten kleinen Lachen. Er lallte beinah. »Das macht nichts. Du weißt ja, wie ich aussehe.«
»Und mir ist so schwindelig. Würdest du es als sehr ungehörig empfinden, wenn ich meinen Kopf in deinen Schoß legte?« Seine Stirn war gerunzelt, und sein Gesicht wirkte mit einemmal grau.
»Nein, keineswegs.«
Etienne hob den Schlauch ein letztes Mal an die Lippen und ließ sich die letzten Tropfen in den Mund rinnen. Dann streckte er sich auf dem Rücken aus, kreuzte die Knöchel und bettete den Kopf auf Cædmons Oberschenkel.
»Es … es war kein schlechtes Leben, weißt du. Ich bin dreißig Jahre alt geworden, das ist kein so übles Alter, oder?«
»Nein«, stimmte Cædmon zu, den noch ein Jahr von seinem dreißigsten Geburtstag trennte. »Danach kommen nur noch Greisenalter und Siechtum.« Etienne lachte glucksend, dann verzerrte sich sein Gesicht, und er preßte die flache Hand auf die linke Schläfe. »Gott war mir fast immer gnädig in diesen dreißig Jahren. So viele Wünsche sind mir erfüllt worden. Selbst wenn sie allesamt eitel waren …«
»Was macht das schon.«
»Ja, du hast recht.« Die trüben, blutunterlaufenen Augen fielen zu. »Gott, Cædmon, erinnerst du dich, wie wir … wie wir die Schweine in Winchester mit in Wein getunktem Brot gefüttert haben und sie alle besoffen waren?«
»Nicht so besoffen wie wir.«
»Das ist wohl wahr. Und dann … und dann … Cædmon, ich bin so müde.«
Cædmon antwortete nicht. Behutsam legte er die Rechte auf den dunklen Schopf, wandte den Kopf ab, damit seine Tränen nicht auf Etiennes Gesicht fielen, und zog mit der Linken das Messer aus der Scheide.
»Cædmon?«
»Ja, Etienne.«
»Ich glaube, ich möchte jetzt ein bißchen schlafen.«
Cædmon nahm die Hand vom Kopf seines Freundes, legte sie über die Linke an den abgegriffenen Schaft des langen Messers und stieß es Etienne mit einer präzisen, fließenden Bewegung in die Brust.
Caen, Juni 1079
»Mein Name ist Cædmon of Helmsby, ehrwürdige Mutter, ich bin …« »Ich weiß, wer Ihr seid«, unterbrach die Äbtissin ihn schneidend. Sie war eine ungewöhnlich hochgewachsene Frau um die Fünfzig. Die kerzengerade Haltung unterstrich ihre Größe und flößte jedem Besucher wie auch den Schwestern ihres Klosters Respekt und Ehrfurcht ein. Das Gesicht mit den ausgeprägten, hohen Wangenknochen wirkte ebenso nobel wie asketisch, die dunklen Augen intelligent und jetzt abweisend und kühl.
Er bemühte sich nach Kräften, sich nicht einschüchtern zu lassen. »Wenn ich recht informiert bin, hat der Bischof von Bayeux Euch geschrieben?«
Sie nickte knapp. »Er und die Königin ebenfalls«, erwiderte sie. Ihr Mißfallen ob des Inhalts dieser Briefe war nicht zu überhören. Aber zumindest was diesen Fall anging, war sie an die Weisungen des Bischofs von Bayeux gebunden – auch wenn der lasterhafte Odo hieransonsten glücklicherweise nicht zuständig war –, und der Königin eine Bitte abzuschlagen war so gut wie unmöglich, denn Matilda hatte dieses Kloster gestiftet.
»Dann wäre ich dankbar, wenn ich Aliesa de Ponthieu jetzt sprechen könnte, Madame, vorausgesetzt, ich komme nicht ungelegen.«
Es war früher Morgen, der Tau im grasbewachsenen Innenhof des Kreuzgangs kaum getrocknet. Er wußte so gut wie sie, daß es die beste Zeit war, ein Kloster zu besuchen.
Sie deutete ein Nicken an. »Wartet hier.«
Er wartete vielleicht eine Viertelstunde, und seine Nervosität und die bohrende Angst steigerten sich mit jeder Minute. Er wußte ja nicht einmal, ob sie ihn sehen wollte.
Als er schon im Begriff war, die Flucht zu ergreifen und in der nahegelegenen Benediktinerabtei von St. Etienne, wo er die letzten Wochen verbracht hatte, um Aufnahme als spät
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