Das zweite Königreich
entschlossener Novize zu ersuchen, traten zwei dunkel gekleidete Frauen lautlos durch eine schmale Tür in der Südwand des Kreuzganges. Die jüngere und kleinere war Cecile, die Tochter des Königs, die sich hier durch so hervorragende Qualitäten und so tiefe Demut und Frömmigkeit hervorgetan hatte, daß schon jetzt festzustehen schien, daß sie die nächste Äbtissin dieses Hauses werden würde. An ihrer Seite ging Aliesa.
Er trat ihnen mit weichen Knien entgegen und verneigte sich, ohne die Prinzessin wirklich wahrzunehmen. Einen Moment mußte er um Mut ringen, ehe er Aliesa in die Augen sehen konnte, und beschränkte sich darauf, sie aus dem Augenwinkel zu betrachten. Die dunkle Nonnentracht unterstrich das Lilienweiß ihrer Haut prägnanter, als all die kostbaren Kleider es je vermocht hatten, das Fehlen von jedwedem Schmuck ihre natürliche Schönheit. Sie schien ihm fremd und gleichzeitig vollkommen vertraut. Alle Einzelheiten waren genau so, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte, nur das Gesamtbild hatte er vergessen. Es traf ihn unvorbereitet, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, fast wie beim allerersten Mal. Er spürte sein Herz in der Kehle rasen und war keineswegs sicher, ob er einen Ton herausbringen würde.
Dann hob er endlich den Kopf und sah sie an.
Die graugrünen Augen schienen größer, vielleicht weil ihr Gesicht eine Spur schmaler geworden war, und kummervoll. Die Heiterkeit ihres Wesens, die diese Augen immer hatte erstrahlen lassen, war von Trauerund Schmerz überlagert. Und doch war ihr Ausdruck im Grunde unverändert. Cædmon war versucht, in diesen Augen zu ertrinken.
Dann lächelte sie und streckte ihm die Hände entgegen. »Cædmon. Mein armer Cædmon.«
Er ergriff die Hände, und da sie nicht allein waren, beschränkte er sich darauf, die rechte an die Lippen zu führen. »Ich bin alles andere«, entgegnete er leise. »Kommst du mit mir?«
»Wie kannst du fragen?«
»Ich denke, ich habe alles, was wir brauchen. Mußt du packen?«
Sie schüttelte den Kopf und wies auf den kleinen Beutel an ihrem Gürtel. »Das ist alles.« Dann ließ sie ihn los, wandte sich an Cecile, schloß sie in die Arme, und die beiden jungen Frauen sprachen leise ein paar Sätze.
Als Aliesa sich löste, verneigte Cædmon sich hastig vor der Prinzessin. »Lebt wohl, Cecile. Gott sei mit Euch.«
»Oh, ich denke, das ist er. Was Euch betrifft, bin ich mir hingegen nicht so sicher«, erwiderte die Tochter ihres Vaters, aber ihr Lächeln milderte die Schärfe ihrer Worte.
Cædmon ergriff Aliesas Hand und führte sie zum Portal und auf die stille Straße hinaus.
»Keine Pferde?« fragte sie verwundert. »Und bis wohin soll ich laufen?« Er lächelte über diese so typisch normannische Art von Entrüstung, und seine Befangenheit ließ ein wenig nach. »Nur bis zum Fluß. Es ist nicht weit.«
»Oh. Bist du ein Seemann geworden, Cædmon?«
»Ich glaube, ich bin immer das, was ich gerade sein muß.«
Jeder, der zwischen Yare und Ouse aufwuchs, lernte zu segeln und einen Flußkahn zu führen. Cædmon brachte sie zu dem kleinen, aber stabilen und wendigen Boot, das er einem der Flußfischer von Caen abgekauft hatte, und half ihr an Bord.
Aliesa ließ sich auf der schmalen Sitzbank im Heck nieder und kreuzte unbehaglich die Arme. »Wohin fahren wir?«
»Das verrate ich nicht. Es ist nicht weit. Heute mittag sind wir da.« Das hoffte er jedenfalls. Er stieß das Boot einigermaßen geschickt ab, tauchte die Ruder ins Wasser und steuerte in die Mitte des Stroms. Dann legte er sich ohne allzugroßen Elan in die Riemen. Er wußte, die Strömung würde sie in Windeseile zum Meer bringen.
Sie saßen sich gegenüber und wechselten unsichere Blicke und das ein oder andere nervöse Lächeln.
»Laß uns nicht in Sprachlosigkeit sinken, Cædmon«, sagte sie schließlich kopfschüttelnd. »Erzähl mir von …«
»Nein, du zuerst. Bitte.« Er ruderte mit mehr Schwung, spürte die Morgensonne auf der rechten Wange, roch den Fluß und hörte sein Plätschern, und er hätte nichts dagegen gehabt, noch ein paar Stunden zu schweigen und sie einfach anzusehen. Sich langsam wieder an sie zu gewöhnen. Aber wenn sie es anders haben wollte, war es ihm auch recht.
Sie ließ die schmale, zarte Linke durchs Wasser gleiten und sah darauf hinab. An der Klosterpforte hatte sie den züchtigen Nonnenschleier abgelegt; die langen, schwarzen Haare waren offen und fielen vor ihr Gesicht, so daß er nichts als ihre Nasenspitze
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