Das zweite Königreich
sah.
»Ich habe nicht viel zu erzählen«, gestand sie. »Die Zeit im Kloster vergeht langsam und beschaulich und fliegt doch dahin. Ein Tag ist wie der andere. Es war friedvoll und erbaulich. Die meisten Schwestern waren sehr gut zu mir. Ich habe viele neue Dinge gelernt.« Sie atmete tief durch, hob den Kopf und warf die schwarze Haarflut über die Schulter zurück. »Ich war eingesperrt und unfrei, aber das war schließlich nichts Neues, in gewisser Weise war ich das mein Leben lang. Ich hatte es auf jeden Fall besser als du. Als Lucien mir am Tag meiner Abreise gestand, was er mit dir getan hatte, habe ich mir gewünscht, ich wäre tot.«
Ja, dachte er, ich auch. »Ach … Das ist so lange her, weißt du.«
Sie betrachtete ihn versonnen. »Du bist distanziert.«
»Nein. Ich bin verlegen. Ganz sicher nicht distanziert.«
»Aber verändert.«
»Was hast du erwartet? Es waren drei Jahre. Viel ist passiert. Ich habe lesen gelernt, ob du’s glaubst oder nicht.«
Ihr Gesicht erstrahlte in einem Lächeln purer Freude. »Ist das wahr?« »So wahr ich hier sitze und mir die Hände schwielig rudere.«
Sie schüttelte verwundert den Kopf. »Erzähl der Reihe nach.«
»Erst will ich mehr über dich hören.«
»Nein, jetzt bist du am Zug, würde ich sagen.«
Also berichteten sie abwechselnd. Nach einer guten Stunde erreichten sie die Flußmündung, und Cædmon richtete den Mast auf, setzte nach einigen Fehlversuchen das kleine Segel und steuerte nach Osten. Eswehte ein stetiger ablandiger Wind, der sie gut voranbrachte, ohne seine bescheidenen Seemannskünste zu überfordern. Nahe der Küste trieben sie durch den Ärmelkanal, und die stockende Unterhaltung wurde bald flüssig, während sie die eigentümliche Scheu nach der langen Trennung überwanden. Bald redeten sie wie früher, vertraut und offen, berichteten von den frohen und den finsteren Stunden der letzten drei Jahre und überschütteten einander begierig mit Fragen.
»Hat die Königin dir geschrieben?« wollte Cædmon wissen. »Irgendwann letzten Winter?«
Aliesa nickte und klopfte auf ihren kleinen Beutel. »Ein wundervoller Brief. Du kannst dir nicht vorstellen, welchen Trost er mir gespendet hat. Sie schrieb mit solcher Wärme von dir. Es war das erstemal, daß ich wirklich Hoffnung geschöpft habe.«
Und als die Sonne schon hoch stand und Cædmon begann, nach seinem Ziel Ausschau zu halten, sagte sie schließlich: »Erzähl mir von Etienne, Cædmon.«
Er wandte sich ab, überprüfte unnötigerweise ein paar Leinen, lehnte sich schließlich mit dem Rücken an die niedrige Backbordwand und winkte sie zu sich. »Komm her.«
Sie erhob sich unsicher, machte zwei wankende Schritte, die die Nußschale bedenklich ins Schaukeln versetzten, und ließ sich dann neben ihm auf den Planken nieder.
Cædmon legte den Arm um ihre Schultern und sah ihr einen Moment in die Augen. Dann strich er mit den Lippen über ihre Schläfe und berichtete ihr in allen Einzelheiten, was sich ereignet hatte.
Aliesa vergrub den Kopf an seiner Schulter und weinte.
»Und was geschah dann?« fragte sie schließlich, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und sah ihn an.
Er hob kurz die Schultern. »An die Nacht kann ich mich nicht erinnern. Irgendwann kamen Menschen. Wachen. Dann ein Offizier. Ein Mönch, der Vater Maurice war, dann Wulfnoth, mein Bruder und schließlich der König. Erst da kam ich wieder halbwegs zu mir und verstand, daß sie alle wollten, daß ich Etienne losließ, damit sie ihn begraben konnten. Und sie haben mich beschimpft und auf mich eingeredet. Sie haben mich pausenlos irgendwelche Dinge gefragt, und ich habe geantwortet. Aber ich kann mich an kein Wort entsinnen. Es ist alles … verschwommen. Ich wollte ihn nicht hergeben. Ich war so glücklich, daß er uns vergeben hatte, ich … wollte ihn nicht hergeben.Wulfnoth hat ihn mir schließlich aus den Armen genommen, glaube ich. Und dann war ich ein paar Stunden oder Tage eingesperrt, bis Vater Maurice alles erklärt hatte. Dem König Etiennes Testament gezeigt und vorgelesen hatte.«
In Wirklichkeit, so wußte er inzwischen, war es eine ganze Woche gewesen, doch auch diese Zeit war ihm nicht im Gedächtnis. Er entsann sich nur bruchstückhaft. Vater Maurice, der sich um ihn gekümmert hatte wie zuvor um Etienne, hatte ihm später erklärt, daß Gott die Menschen manchmal in diesen Zustand des Vergessens versetze, damit Geist und Seele einen großen Schock überwinden konnten.
»Ich könnte mir
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