Das zweite Königreich
auf den Beinen, aber blaß und dürr. Er fastet und arbeitet zuviel. Wenn seine zahllosen Pflichten ihn einmalnicht in Anspruch nehmen, schreibt er an einer Abhandlung über kanonisches Recht. Ich glaube, er schläft niemals.«
»Ein sehr gelehrter Mann. Wenn er wollte, könnte er es weit bringen.« Cædmon lächelte. »Guthric besitzt nicht einen Funken persönlichen Ehrgeiz.«
Odo rieb sich das Kinn. »Nein, ich weiß. Vermutlich bewundere ich ihn deswegen so. Und nun erzählt mir von Eurer wunderbaren Frau.« Sie plauderten über dieses und jenes, und als es Zeit zum Essen wurde, beschloß der Bischof, daß sie nicht in die Halle hinuntergehen sollten, sondern ließ für Cædmon und sich etwas heraufbringen. Cædmon wunderte sich, denn es war ausgesprochen unüblich, daß der Herr der Halle die Hauptmahlzeit des Tages nicht mit seinem Haushalt einnahm. Aber es war so warm und anheimelnd in Odos Privatgemach und so zugig und rauchig in der Halle, und Cædmon war immer noch nicht ganz getrocknet. Also kam ihm diese Ausnahme durchaus gelegen.
Als er sich nach einem letzten Becher von Odos erstklassigem Burgunder schließlich verabschiedete, war es längst Nacht geworden. Nur mit einer flackernden, tropfenden Kerze in der Hand schritt er den langen Korridor entlang zur Treppe. Die Zugluft drohte das schwache Flämmchen auszublasen, aber notfalls hätte Cædmon sich hier auch im Dunkeln zurechtgefunden. Über ein Jahr hatte er auf dieser Burg gelebt, und wann immer es ihn seither für eine Nacht nach Dover verschlagen hatte, bewohnte er dasselbe Quartier wie damals. Er weilte mit seinen Gedanken in der Vergangenheit, als er den Riegel zurückzog und über die Schwelle in den dunklen Raum trat, dachte an Hyld und Bruder Oswald und den wunderbaren Teppich, den sie hier geschaffen hatten, doch als er einen Luftzug auf der linken Wange spürte, reagierte er sofort.
Die Kerze fiel zu Boden und erlosch. In vollkommener Dunkelheit zückte er sein Jagdmesser, sprang den dunklen Schatten an, der hinter der Tür auf ihn gelauert hatte, und bekam Stoff und einen muskulösen Arm zu fassen. Er schleuderte die Gestalt mit Macht nach links, so daß sie hart gegen die Wand prallte, stürzte sich von hinten darauf und setzte sein Messer an die Kehle. »Wer bist du?« zischte er wütend. »Gib dich zu erkennen, na los!«
»Thane, um der Liebe Christi willen … Ich bin’s, Odric.«
Cædmon ließ die Waffe sinken und wich einen Schritt zurück. Füreinen Moment überkam ihn Grauen, weil er glaubte, der Geist seines Housecarls habe ihn hier heimgesucht, aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Ein Geist war nicht aus Fleisch und Blut, hatte keine Arme, keine Kehle, die man ertasten konnte, vor allem keine Todesangst.
»Odric … O mein Gott.« Er sagte nicht ›Ich dachte, du bist tot‹, denn das brachte Unglück. »Entschuldige, alter Freund. Du hast mir einen furchtbaren Schreck eingejagt.«
Er hörte Odric tief durchatmen. »Ja, Ihr mir auch, Thane.«
Cædmon hockte sich auf den Boden und tastete im Stroh nach der Kerze. »Warte einen Moment«, sagte er, öffnete die Tür, entzündete den Docht an einer der Fackeln im Gang und kam mit dem Licht zurück. Im schwachen Schimmer betrachtete er seinen totgeglaubten Housecarl. Eine Narbe, die vor Odos Feldzug nach Northumbria noch nicht dagewesen war, verlief quer über das nach normannischer Mode glattrasierte Kinn, aber Odric war immer noch ein auffallend gutaussehender Mann. Nur die meergrauen Augen, die sonst meistens übermütig funkelten, waren jetzt geweitet und voller Unruhe.
Cædmon legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wie gut es tut, dich zu sehen. Wo … wo in aller Welt bist du gewesen? Komm, setz dich.« Er führte ihn zum Bett, zog den schlichten Vorhang zurück, und sie setzten sich nebeneinander auf die Kante.
»Wir sind auf der Isle of Wight«, berichtete Odric.
»Wir?«
Odric wandte ihm das Gesicht zu. Er wirkte verunsichert. »Ja. Edwin, Gorm, mein Bruder Elfhelm und ich. Aber das müßt Ihr doch wissen.« Cædmon war vollkommen verwirrt. Doch ein eigentümlich heftiger Instinkt mahnte ihn zur Vorsicht. »Nun ja … ich war nicht ganz sicher. Erzähl. Wie ist es euch ergangen? Und wie kommst du hierher?«
Odric verknotete die Finger ineinander und sah darauf hinab. »Als wir letzten Sommer von der schottischen Grenze zurückkamen, führte Mylord Bischof Odo … ich meine, der Earl of Kent, er führte uns hierher. Er entließ die Fußsoldaten des Fyrd,
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