Das zweite Königreich
Schienbeine und gebrauchte seine Ellbogen wie Rammböcke. Dann traf ihn ein harter Gegenstand am Hinterkopf, und sein letzter Gedanke war, daß Odo ihm auf die Botschaft des Königs überhaupt keine Antwort gegeben hatte.
Dover, März 1082
Die Tür schwang auf, und die Wache brachte eine Schale mit Essen und einen Krug.
Cædmon legte die Laute beiseite, stand auf und betrachtete die Gaben stirnrunzelnd. »Was denn, kein Brathühnchen? Ich hätte geschworen, heute sei Mittwoch.«
Der junge Soldat schlug die Augen nieder und nickte schuldbewußt. »Stimmt. Aber heute beginnt die Fastenzeit, Thane.«
Cædmon starrte ihn ungläubig an. Ein Jahr, dachte er erschüttert. Ein ganzes Jahr …
Er biß hart die Zähne aufeinander. Er hatte bis jetzt die Fassung bewahrt – sie jedenfalls vor Zeugen nicht verloren –, und es bestand kein Grund, daran etwas zu ändern, nur weil heute Aschermittwoch war. Er machte eine wedelnde Handbewegung. »Na schön. Pack dich.«
Der Junge schlich mit hängenden Schultern zur Tür, aber ehe er hinaustrat, rief Cædmon ihn zurück. »Nein, warte. Wie ist das Wetter draußen?«
»Kühl und sonnig. Es wird Frühling.«
Cædmon schnitt verstohlen eine Grimasse. »Wie schön für die Welt. Wo ist der König?«
»Auf dem Kontinent, Thane. Er hat das Maine endgültig zurückgewonnen, heißt es.«
Cædmon nickte. Gut gemacht, William, dachte er. Ich weiß nicht, was Gott an dir findet, aber er hat dich anscheinend immer noch nicht verlassen.
»Und die Prinzen?«
»Rufus und Robert haben den König begleitet. Henry ist in England geblieben. Er verbringt die meiste Zeit bei Lanfranc und Eurem Bruder in Canterbury, wird erzählt.«
Cædmon wandte den Kopf ab und starrte auf die vertraute, dunkelgraue Mauer. »Es ist gut«, beschied er. »Du kannst verschwinden.« Nachdem der junge englische Wachsoldat fort war, schalt Cædmon sich einen undankbaren Narren, weil er gerade ihn immer so schroff behandelte. Dabei war dieser Junge der einzige, der ihm gelegentlich ein paar Neuigkeiten aus der Welt erzählte, der unaufgefordert die Fackel auswechselte, der einzige, den Cædmons Los nicht völlig unberührt ließ. Er war ein freundlicher, gutartiger junger Kerl, und er hatte ein Gewissen. Aber Cædmon hatte sich noch nie die Mühe gemacht, ihn nach seinem Namen zu fragen.
Er gelobte Besserung. Er schärfte sich ein, sich zusammenzunehmen, sich nicht gehenzulassen, sich von seiner Bitterkeit nicht beherrschen zu lassen. Die Gefahr bestand durchaus. Dabei war seine Gefangenschaft wirklich zu ertragen. All die vielen Male, die er in seinem Leben in normannischen Verliesen eingesperrt gewesen war – verdient oderunverdient –, war es ihm niemals so gut ergangen wie jetzt. Er wurde vortrefflich beköstigt, bekam das gleiche Essen wie die Leute in der Halle, akzeptablen Wein und soviel Bier, wie er nur wollte. Er hatte so viel Zeug hier unten angesammelt, daß sein kleines Verlies fast davon überquoll: Decken, Kissen, eine Laute, sogar Bücher. Er wurde zweimal wöchentlich rasiert und bekam auf Wunsch Wasser, um sich zu waschen. Er hatte keinen Tag Not gelitten oder wirklich gefroren, und nur die drei oder vier Male, da er versucht hatte zu fliehen, hatten sie ihn für ein paar Tage in Ketten gelegt. Es war zu ertragen. Es war auch zu ertragen, daß er seit einem Jahr weder Sonne noch Mond, noch Himmel gesehen hatte. Daran konnte man sich gewöhnen. Man konnte sich an fast alles gewöhnen.
Was ihm hingegen unerträglich war, was ihn schier um den Verstand brachte, war der Gedanke, daß Aliesa sich seit einem Jahr grämte, daß sie nachts wachlag und sich fragte, was in aller Welt aus ihm geworden sein mochte. Ihre Sorge, ihr Kummer, ihre Trauer. Und daß niemand ihm sagen konnte oder wollte, wie es ihr ging, ob er einen vierten Sohn oder eine Tochter hatte. Oder ob seine Frau vielleicht im Kindbett gestorben war. Oder ob sie ihn aufgegeben hatte und sich allmählich nach einem Stiefvater für ihre Kinder umschaute. So vieles konnte in einem Jahr passieren, und er wußte nichts. Auch sein junger englischer Wärter konnte oder wollte ihm nicht erzählen, was es Neues in Helmsby gab.
Er verzehrte sich nach seiner Frau. Es war schlimmer als je zuvor, denn früher war seine Sehnsucht nach Aliesa immer wie der Griff nach den Sternen gewesen. Doch jetzt gehörte sie ihm an, so wie er ihr, und in seiner grenzenlosen Einfalt hatte er geglaubt, daß nur Gott sie je wieder auseinanderreißen könnte.
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