Das zweite Königreich
anzetteln. Beweist ihnen Gnade, dann wird Gott erkennen, daß Eure Reue aufrichtig ist, und Euch die seine nicht verweigern.«
William sah einen Moment versonnen zu ihm auf und zeigte den Schatten seines Wolfsgrinsens. »Ein wahrhaft Cædmonischer Vorschlag …« »Er hat recht, Sire«, meldete der Erzbischof sich unerwartet zu Wort. »Es sind so viele Männer, und manche tragen nur den falschen Namen. Laßt sie frei. Es wäre ein wahrer Akt der Nächstenliebe und wird so manche Sünde aufwiegen.«
Der König schürzte die Lippen und dachte nach. Dann murmelte er: »Na schön. Warum nicht? Sollen meine Söhne sich mit ihnen herumschlagen, in der nächsten Welt können sie mir nicht mehr schaden. Also nehmt Euren Freund Godwinson und bringt ihn nach Hause, Cædmon, das ist es doch, was Ihr wollt.«
»Danke, Sire.«
»Und all die anderen meinethalben auch. Mit einer Ausnahme. Mein Bruder Odo darf niemals freigelassen werden. Denn er hat sich nicht nur gegen mich versündigt, sondern gegen den Papst, gegen Gott selbst. Dafür kann er in dieser Welt keine Vergebung finden.«
Robert de Mortain trat vor und sank neben dem Bett auf die Knie. »William, ich bitte Euch. Er ist doch unser Bruder!«
Der Abt von Jumièges gab ihm recht. »Fast fünf Jahre war er nun eingesperrt, Sire. Das ist lange genug.«
»Immerhin ist und bleibt Odo ein Bischof der Kirche«, fügte der Erzbischofhinzu. »Und ich bin sicher, daß er seine Sünden ebenso aus tiefster Seele bereut wie Ihr.«
Einer nach dem anderen sprach für Odo, und William hörte ihnen notgedrungen zu, bis schließlich Schweiß auf seiner Stirn ausbrach, weil die Schmerzen wieder einsetzten. Er biß sich die Lippen blutig, um nicht zu schreien, sein massiger Körper versteifte sich wie im Krampf, und seine gealterten Hände krallten sich zu Klauen zusammen.
»Hört auf!« zischte Lucien de Ponthieu, der bislang keinen Ton gesagt hatte, schließlich in das Stimmengewirr. »Seid doch still. Seht ihr denn nicht, was ihr anrichtet!«
Alle verstummten und warteten beklommen, bis der Anfall vorüberging.
»Also schön«, flüsterte der König erschöpft. »Also schön. Meinetwegen auch Odo. Ihr werdet ja sehen, was ihr davon habt.«
Cædmon und Lucien wachten die Nacht über an Williams Sterbebett, und es war das erste Mal, daß sie in wirklicher Eintracht beieinandersaßen, was nicht zuletzt daran lag, daß sie kein Wort sprachen.
Kurz nach Sonnenaufgang erwachte der König aus einem ohnmachtartigen Schlaf, sah blinzelnd in die vertrauten Gesichter und fragte: »Welche Glocke ist es, die ich da höre?«
»Notre-Dame in Rouen, Sire«, antwortete Lucien. »Die Glocken läuten zur Prim.«
»Notre-Dame. Dann … dann empfehle ich meinen Geist der heiligen Jungfrau, die seit jeher meine Fürsprecherin war.«
Zwei-, dreimal hörten sie ihn noch rasselnd atmen, dann kehrte Stille ein, und der Blick der dunklen Augen wurde glasig.
Cædmon zögerte einen Moment, aber da Lucien sich nicht rührte, hob er schließlich die Rechte und schloß die Lider.
»So starb William der Bastard«, sagte er leise, »den sie in England den Eroberer nannten, zur Prim am neunten September im Jahre des Herrn eintausendundsiebenundachtzig.«
»Der König ist tot«, flüsterte Lucien fassungslos.
Cædmon nickte. »Lang lebe König Rufus. Einer von uns muß zu ihm reiten und ihm die Nachricht bringen. Du oder ich? Mir ist es gleich.« Lucien sah ihn an. »Ich werde gehen, wenn du keine Einwände hast. Höchste Zeit, daß ich etwas tue, um Rufus’ Gunst zu gewinnen. Ichwerde ihn begleiten und dafür sorgen, daß er heil auf seinen Thron kommt.«
Cædmon nickte und machte eine einladende Geste.
Lucien blickte noch einen Moment auf den Toten hinab, sank dann neben ihm auf ein Knie, küßte seine Hand und sagte auf englisch: »Mögest du auf deinem Weg Freunde finden, die Führung der Engel und das Geleit der Heiligen.«
Dann ging er eilig hinaus.
Cædmon starrte ihm ungläubig nach.
Der Tod des Königs und Herzogs löste zunächst Kopflosigkeit, beinah eine Art Panik aus. Die normannischen Adligen, die in St. Gervais und auf der nahen Burg in Rouen versammelt gewesen waren, reisten überstürzt ab, begaben sich auf ihre Güter und verschanzten sich dort. Alle fürchteten, daß Anarchie und blutige Fehden ausbrechen könnten, ein jeder dachte vornehmlich daran, seine Besitztümer und Interessen zu schützen. Der Erzbischof schickte Prinz Robert in Paris eine unterkühlte Botschaft
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