DavBen-StaderDie
verfolgte mich lange, bis ich schließlich vergaß, wie er eigentlich aussah, und mich nur noch an die Erinnerung erinnern konnte. Das Bild des Sturmbannführers, der versucht wegzukriechen, habe ich dagegen noch immer lebhaft vor Augen. Ich könnte alle möglichen frommen Sprüche von mir geben, um dich davon zu überzeugen, dass ich ein feinfühliger Mensch bin, denn ich halte mich durchaus für einen feinfühligen Menschen. Und doch empfand ich in jener Nacht nichts als Genugtuung angesichts dessen, was ich getan hatte. Ich hatte gehandelt, entgegen allen Erwartungen, entgegen meiner eigenen Geschichte als Feigling. Abendroth zu töten hatte letztendlich nichts damit zu tun, Soja zu rächen oder einen hohen Offizier der Einsatzgruppen zu beseitigen. Ich hatte dafür gesorgt, dass Kolja und Vika am Leben blieben. Dass ich selbst am Leben blieb. Unser warmer Atem, der über unseren Köpfen aufstieg, unser Ächzen, wenn unsere Stiefel tief in den Schnee einsanken, jeder Sinneseindruck, den wir auf unserem langen Marsch wahrnahmen, das Erlebnis selbst - das alles erlebten wir letztendlich nur, weil ich, mit dem Rücken zur Wand, ein wenig Courage gezeigt hatte. Der stolzeste Augenblick meines Lebens kam, als wir anhielten, um Atem zu schöpfen, und Vika, als sie meinen Finger untersuchte, um sich zu vergewissern, dass die Blutung aufgehört hatte, mir ins Ohr flüsterte: »Danke.«
An einer kritischen Stelle stritten Vika und Kolja darüber, in welche Richtung wir gehen mussten. Vika beendete die Debatte mit einem ungehaltenen Kopfschütteln und marschierte los, ohne sich darum zu kümmern, ob wir ihr folgten. Seit dem Debakel mit Mga hatte ich das Vertrauen zu Koljas Fähigkeiten als Navigator verloren; ich folgte ihr. Kolja blieb ganze acht Sekunden standhaft, bevor er uns hinterhertrottete.
Irgendwo unterwegs erzählte ich ihr die wahre Geschichte, weshalb Kolja und ich uns au s Piter fortschlichen, feindlic he Linien überquerten und schließlich in dem Bauernhaus unter den Lärchen gelandet waren. Ich sprach sehr leise, damit Kolja es nicht hörte, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, wen ich damit verriet. Ich erzählte ihr von der Tochter des Obersts, die auf der Newa Schlittschuh lief; von den Kannibalen und ihrem schauerlichen Warenangebot, das an Ketten von der Decke hing; dem sterbenden kleinen Vadim und seinem Hahn, unserem Goldstück; den Panzerminenhunden, die im Schnee verbluteten, und dem toten russischen Soldaten, der Richtung Moskau blickte. Als ich fertig war, schüttelte Vika den Kopf, sagte aber kein Wort, und ich befürchtete, dass ich ihr zu viel erzählt hatte.
Als ich sie so durch den Wald stapfen sah, stumm und unermüdlich, die Maschinenpistole über der Schulter, erinnerte ich mich daran, was Kolja am Morgen davor zu mir gesagt hatte.
Der Krieg hatte jeden verändert, aber es war trotzdem schwer zu glauben, dass sie noch vor sieben Monaten Astronomie studiert hatte.
»Darf ich dich was fragen?«
Sie ging ungerührt weiter, ohne mich einer Antwort zu würdigen. Sie befasste sich nicht mit dummen Fragen wie »Darf ich dich was fragen?«.
»Kolja sagt, du bist vom NKWD.«
»Ist das eine Frage?«
»Ja, schon.«
»Und, was glaubst du?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich, aber sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, war mir klar, dass ich es wusste. »Ich glaube, er hat recht.«
Sie spähte in die Dunkelheit, suchte nach einem markanten Punkt, um sich zu vergewissern, wohin wir gingen.
»Stört es dich?«
»Ja.«
»Warum?«
»Wegen meinem Vater.« Mir fiel ein, dass sie nicht wusste, was mit meinem Vater passiert war, und so setzte ich leise hinzu: »Sie haben ihn abgeholt.«
Fast eine Minute gingen wir schweigend weiter, einen sanft ansteigenden Hügel hinauf. Ich begann zu keuchen, und die Schwäche in meinen Beinen kehrte zurück, als wir uns stetig weiter von unserem Sieg in Krasnogwardejsk entfernten.
»Dein Vater war Schriftsteller, stimmt's? Dann spricht alles dafür, dass er von anderen Schriftstellern denunziert wurde. Die Polizei hat nur ihre Arbeit getan.«
»Ja. Genau wie die Einsatzgruppen. Aber die haben sich ihre Arbeit ausgesucht.«
»Falls es etwas ändert, meinen Vater haben sie auch ab geholt.«
»Wirklich? War er Schriftsteller?«
»Nein. Er war beim NKWD.«
Die Besteigung des lang gestreckten Hügels kostete uns fast eine Stunde und forderte meinen Beinen das Letzte ab, aber als wir schließlich den Kamm der baumlosen Anhöhe erreichten, verstand
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