DavBen-StaderDie
waren beide in der Partei. Ich weiß nicht, was sie da gemacht haben, aber ich nehme an, es war etwas Wichtiges. Die Einsatzgruppen haben sie gefunden und auf offener Straße erschossen. Sie hängten die Leichen an Laternenpfosten auf, damit jeder im Ort sehen konnte, was mit Kommunisten passiert. Soja haben sie zur gleichen Zeit hergebracht wie uns, Ende November. Davor waren andere Mädchen hier. Nach ein paar Monaten haben sie uns nämlich satt. Aber Soja war ihr Liebling. Sie war so klein und hatte solche Angst vor ihnen. Ich glaube, das hat ihnen gefallen. Sie sagten immer zu ihr: >Hab keine Angst, ich tu dir nicht weh, ich lass nicht zu, dass dir jemand wehtut<, solche Sachen eben. Aber sie hatte ihre Eltern an den Laternenpfosten hängen sehen. Jeder Deutsche, der sie anfasste, konnte der Mann sein, der ihre Mutter und ihren Vater erschossen hat oder den Befehl dazu gegeben hatte.«
»Wir alle könnten Geschichten erzählen«, sagte Nina. »Aber Soja hat durchgedreht.«
»Ja, sie hat durchgedreht. Sie war vierzehn; sie hat durchgedreht. Bei dir ist das etwas anderes; du hast deine Schwester. Du bist nicht allein.«
»Sie hatte uns.«
»Nein«, sagte Lara, »bei ihr war das anders. Jede Nacht, wenn die Männer fort waren, hat sie geweint. Stundenlang, bis sie eingeschlafen ist, und manchmal hat sie überhaupt nicht geschlafen. In der ersten Woche haben wir versucht, ihr zu helfen. Wir haben uns zu ihr gesetzt und ihre Hand gehalten, ihr Geschichten erzählt, alles Mögliche, nur damit sie zu weinen aufhört. Aber es hat alles nichts genützt. Hast du mal versucht, einen Säugling zu beruhigen, der Fieber hat? Du versuchst alles: Du nimmst ihn auf den Arm, du schaukelst ihn, du singst ihm was vor, du gibst ihm was Kühles zu trinken; aber ganz egal, nichts funktioniert. Genauso war es bei Soja. Und nachdem sie eine Woche lang ununterbrochen geheult hatte, haben wir aufgehört, Mitleid mit ihr zu haben. Wir wurden wütend. Was Nina sagt, stimmt: Wir alle könnten Geschichten erzählen. Wir alle haben Familienangehörige verloren. Keine von uns konnte bei Sojas Weinen schlafen. In der zweiten Woche haben wir sie einfach nicht mehr beachtet. Wenn sie im einen Zimmer war, sind wir ins andere gegangen. Sie wusste, dass wir wütend waren - sie hat nichts gesagt, aber sie wusste Bescheid. Und da hat sie aufgehört zu weinen. Schlagartig, als ob sie beschlossen hätte, dass es jetzt reicht. Drei Tage lang war sie sehr still, hat nicht mehr geweint, blieb einfach für sich. Und am vierten Morgen war sie weg. Wir haben es gar nicht gemerkt, sondern erst, als die Offiziere kamen. Sie sind betrunken hier hereinspaziert, haben nach ihr gerufen. Ich glaube, dass sie immer miteinander gewettet haben, und der Gewinner bekam Soja als Erster. Sie haben Freunde aus anderen Einheiten mitgebracht, damit sie Soja kennenlernen, haben Fotos von ihr gemacht. Aber sie war weg, und natürlich haben sie uns nicht geglaubt. Wir haben ihnen gesagt, dass wir keine Ahnung hatten, aber an ihrer Stelle hätte ich das auch für eine Lüge gehalten. Ich kann nur hoffen, dass wir gelogen hätten, wenn wir Bescheid gewusst hätten. Ich kann nur hoffen, dass wir das für sie getan hätten. Aber ich bin mir nicht sicher.«
»Natürlich hätten wir für sie gelogen«, sagte Nina.
»Da bin ich mir nicht sicher. Aber egal. Jedenfalls haben sie nach ihr gesucht, Abendroth und die anderen. Das ist ihr - ich kenn mich bei Rängen nicht so aus - ihr Major?« Sie sah Nina an, die mit den Schultern zuckte. »Der Major, glaube ich. Er ist nicht der Älteste, aber er gibt die Befehle. Offenbar versteht er sein Handwerk. Und er hatte Soja immer als Erster, wenn er herkam, jedes Mal, sogar wenn sie von woanders einen Oberst mitbrachten, er beanspruchte sie immer für sich. Wenn er mit ihr fertig war, hat er sich hier ans Feuer gesetzt und sein Zwetschgenwasser getrunken. Immer nur Zwetschgenwasser. Er spricht perfekt Russisch. Und Französisch - er hat zwei Jahre in Paris gelebt.«
»Hat Jagd auf die Anführer der Resistance gemacht«, sagte Nina. »Das hat mir ein anderer Offizier erzählt. Er war so erfolgreich, dass sie ihn zum jüngsten Major der Einsatzgruppen gemacht haben.«
»Er spielt gern Schach mit mir«, sagte Lara. »Ich spiele eigentlich ganz ordentlich. Aber selbst wenn Abendroth mir eine Dame vorgibt oder sogar eine Dame und einen Bauern, bin ich spätestens nach zwanzig Zügen matt, sogar wenn er betrunken ist, und er ist fast immer
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