DavBen-StaderDie
Kommunisten, Zigeuner, Intellektuelle und natürlich Juden. Jede Woche brachten die Prawda und die Krasnaja Swesda neue Fotos von Gräben voll ermordeter Russen, die Männer allesamt getötet durch einen Schuss in den Hinterkopf, nachdem sie ihr eigenes Massengrab ausgehoben hatten. In den Redaktionen wurde bestimmt auf höchster Ebene darüber diskutiert, ob man derart potenziell demoralisierende Bilder abdrucken sollte oder nicht. Aber so grausig die Fotos auch waren, eines machten sie unmissverständlich klar: Dieses Schicksal erwartete uns alle, falls wir den Krieg verloren. Darauf lief es hinaus.
»Dann kommen also Offiziere der Einsatzgruppen nachts hierher?«, fragte Kolja.
»Ja«, sagte Nina.
»Ich wusste gar nicht, dass die mit Artillerie schießen«, sagte ich.
»Normalerweise nicht. Das ist nur so ein Spiel. Sie schließen Wetten ab. Sie zielen auf bestimmte Gebäude in der Stadt, und die Bomberpiloten sagen ihnen, was sie getroffen haben. Darum haben wir nach dem Winterpalast gefragt. Den wollen nämlich alle treffen.«
Ich dachte an das zerstörte Kirow, an Vera Ossipowna und die Antokolski-Zwillinge, ob sie von einstürzendem Mauerwerk zermalmt worden waren oder den Einsturz des Hauses überlebt hatten, verschüttet unter großen Stahlbetonplatten, um dort langsam zu sterben, um Hilfe flehend, während Rauch und Gas sie in den Trümmern erstickten. Vielleicht waren sie tot, weil irgendwo in den Wäldern ein Deutscher, während die Schnapsflasche herumging und er mit seinen Offizierskameraden Witze riss, einem jungen Kanonier die falschen Koordinaten gegeb en hatte und die für den Winter palast bestimmten Siebzehn-Zentimeter-Granaten stattdessen auf einen hässlichen grauen Wohnblock fielen.
»Wie viele kommen?«
Nina blickte kurz auf die anderen Mädchen, doch keine erwiderte ihren Blick. Galina kratzte an etwas Unsichtbarem auf ihrem Handrücken herum. Ein brennendes Holzscheit fiel von den Feuerböcken herunter, und Lara schob es mit dem Schürhaken tiefer in den Kamin hinein. Olessja, das Mädchen mit den Zöpfen, hatte noch kein Wort gesagt, seit wir das Bauernhaus betreten hatten. Ich habe nie erfahren, ob sie schüchtern oder von Geburt an stumm war oder ob ihr die Einsatzgruppen die Zunge abgeschnitten hatten. Sie sammelte unsere leeren Teller und Teetassen ein und trug sie hinaus.
»Das kommt darauf an«, sagte Nina schließlich. Sie sprach beiläufig, als redeten wir über ein Kartenspiel. »Manchmal kommt gar keiner. Manchmal zwei oder vier. Manchmal mehr.«
»Mit dem Auto?«
»Ja, ja natürlich.«
»Und sie bleiben die ganze Nacht?«
»Manchmal. Meistens nicht.« »Und sie kommen nie tagsüber?« »Erst ein oder zwei Mal.«
»Entschuldigt, dass ich das frage, aber was hindert euch dann, wegzulaufen?«
»Glaubst du, dass das so einfach ist?«, fragte Nina, ärgerlich über die Frage, über die versteckte Anspielung.
»Einfach sicher nicht«, sa gte Kolja. »Aber Lew und ich ha ben Piter bei Morgengrauen verlassen, und jetzt sind wir hier.«
»Hältst du die Deutschen für blöd, gegen die du gekämpft hast, die das halbe Land besetzt haben? Glaubst du, die würden uns hier allein lassen, wenn w ir einfach zur Tür hinausspazie ren und nach Piter gehen könnten?«
»Und warum könnt ihr das nicht?«
Ich sah genau, welche Wirkung seine Fragen auf die Mädchen hatten, den Zorn in Ninas Augen, die Scham in den Augen von Galina, die unverwandt auf ihre weichen weißen Hände starrte. Obwohl ich Kolja erst seit wenigen Tagen kannte, war ich ziemlich sicher, dass es ihn ehrlich interessierte und er den Mädchen mit seinem Verhör nicht zusetzen wollte - trotzdem wünschte ich, er würde die Klappe halten.
»Erzähl ihnen von Soja«, sagte Lara.
Nina schien der Vorschlag nicht zu behagen. Sie zuckte mit den Schultern und sagte nichts.
»Die halten uns für Feiglinge«, fügte Lara hinzu.
»Von mir aus können sie denken, was sie wollen«, sagte Nina.
»Gut, dann erzähle ich es ihnen. Früher war noch ein anderes Mädchen da, Soja.«
Galina stand auf, klopfte ihr Nachthemd ab und verließ das Zimmer. Lara beachtete sie nicht.
»Die Deutschen liebten sie. Für jeden Mann, der wegen mir herkam, kamen sechs wegen ihr.«
Laras offene Worte machten uns alle verlegen. Nina wäre zweifellos am liebsten zu den anderen Mädchen hinausgegangen, aber sie blieb, wo sie war, blickte nervös hierhin und dahin, nur nicht zu Kolja und mir.
»Sie war vierzehn. Ihre Mutter und ihr Vater
Weitere Kostenlose Bücher