DavBen-StaderDie
kommen um Mitternacht?«, fragte Kolja.
»Meistens.«
Die Porzellanuhr auf dem Kaminsims zeigte an, dass wir noch sechs Stunden Zeit hatten. Mein Körper war von dem langen Marsch durch den Schnee wie zerschlagen, aber ich wusste, dass ich keinen Schlaf finden würde, nicht nachdem ich gehört hatte, was mit Soja geschehen war, nicht wenn schon bald Offiziere der Einsatzgruppen hier sein würden.
»Ich möchte«, sagte Kolja zu Lara und Nina, »dass ihr morgen früh nach Piter aufbrecht. Ich gebe euch eine Adresse, wo ihr bleiben könnt.«
»Hier sind wir sicherer als in der Stadt«, sagte Nina.
»Nicht nach dieser Nacht.«
15
Lara brachte uns in ein kleines Zimmer im hinteren Teil des Hauses, von dem ich mir gut vorstellen konnte, dass hier zu Zarenzeiten die Kammerdiener geschlafen hatten. Sie hatte einen Messingleuchter mit zwei brennenden Kerzen dabei, den sie auf dem kleinen Schreibtisch abstellte. Die mit Kiefernholz getäfelten Wände waren schmucklos, die Matratzen der Stockbetten hatten keine Laken, und auf den verzogenen Fußbodendielen wäre ich fast hingefallen, aber dafür war das Zimmer warm. Durch die schmalen Fenster blickte man auf einen mondbeschienenen Schuppen und eine Schubkarre, die umgekippt im Schnee lag.
Ich setzte mich auf das untere Bett und strich mit dem Finger über einen Namen, der in die Wand geschnitzt war. ARKADI. Ich fragte mich, vor wie langer Zeit Arkadi in diesem Zimmer gewohnt hatte und wo er jetzt war, ein zitternder alter Mann irgendwo draußen in der kalten Nacht oder nur noch Gebeine auf einem Friedhof. Er war sehr geschickt mit dem Messer gewesen, sein ARKADI ein kunstvolles Filigran im dunklen Holz, feine Linien und Schnörkel, ein kräftiger Schrägstrich unter dem Namen.
Lara und Kolja verabredeten einen Kode - mit Löffeln auf Töpfe schlagen -, damit sie uns signalisieren konnte, wie viele Deutsche erschienen, um ihrem mitternächtlichen Vergnügen nachzugehen. Als sie uns verließ, holte Kolja die Pistole heraus und begann sie auseinanderzunehmen, legte die einzelnen Teile fein säuberlich auf dem Schreibtisch aus, untersuchte sie auf etwaige Beschädigungen und wischte sie mit dem Ärmel seines Hemdes ab, bevor er die Waffe wieder zusammensetzte.
»Hast du schon mal jemand erschossen?«, fragte ich.
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, dass ich mein Gewehr hundert Mal abgefeuert habe, dass vielleicht eine der Kugeln jemand getroffen hat, aber ich weiß es nicht.« Er schob das Magazin wieder in den Griff der Pistole. »Aber wenn ich Abendroth erschieße, dann weiß ich es mit Sicherheit.«
»Vielleicht sollten wir einfach abhauen.«
»Du bist doch derjenige, der unbedingt hierher wollte.«
»Weil wir uns ausruhen mussten. Weil wir etwas essen mussten. Es geht mir schon viel besser.«
Er drehte sich um und sah mich an. Ich saß auf dem Bett, hatte die Hände unter die Beine geschoben, meinen Mantel hinter mir abgelegt.
»Möglicherweise kommen sie zu acht«, sagte ich. »Und wir haben nur eine Pistole.«
»Und ein Messer.«
»Ich muss dauernd an Soja denken.«
»Gut«, sagte er. »Dann denk auch an sie, wenn du ihm das Messer in den Bauch rammst.«
Er warf seinen Mantel auf das obere Bett, kletterte hinauf und ließ sich im Schneidersitz nieder, die Pistole neben sich. Er holte sein Tagebuch aus der Manteltasche. Sein Bleistiftstummel war mittlerweile auf die Größe eines Daumennagels geschrumpft, doch er machte sich seine Notizen im üblichen Tempo.
»Ich glaube nicht, dass ich das kann«, sagte ich nach längerem Schweigen. »Ich glaube nicht, dass ich jemandem ein Messer in den Leib stoßen kann.«
»Dann muss ich eben alle erschießen. Seit wann habe ich eigentlich nicht mehr scheißen können, seit elf Tagen? Was glaubst du, was der Rekord ist?«
»Vermutlich wesentlich länger.«
»Ich bin gespannt, wie das Ganze aussieht, wenn es dann endlich rauskommt.«
»Kolja ... warum hauen wir nicht einfach ab? Wir schnappen uns die Mädchen und gehen zurück nach Piter. Wir schaffen das. Sie haben jede Menge zu essen, das können wir mitnehmen. Wir haben uns erholt und gestärkt. Wir nehmen Wolldecken mit...«
»Hör mal gut zu. Ich weiß, dass du Angst hast. Und das mit Recht. Nur ein Idiot würde seelenruhig dasitzen, wenn er weiß, dass ein Einsatzkommando im Anmarsch ist. Aber das ist doch genau das, worauf du gewartet hast. Das ist die große Nacht. Sie wollen unsere Stadt niederbrennen; sie wollen uns
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