Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

DavBen-StaderDie

Titel: DavBen-StaderDie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
Vom Netzwerk:
jede Strophe von Eugen Onegin aufsagen, sprach fließend Französisch und Englisch, war in theoretischer Physik so gut, dass seine Professoren an der Universität seine Hinwendung zur Poesie als eine mittlere Tragödie betrachteten. Ich wünschte, sie wären charismatischer gewesen, diese Professoren. Ich wünschte, sie hätten ihn die Tröstungen der Physik gelehrt, ihrem Starstudenten erklärt, warum die Form des Universums und das Gewicht des Lichts wichtiger waren als reimlose Verse über die Betrüger und Engelmacher von Leningrad.
    Mein Vater hätte auf Anhieb gewusst, was in diesem Bauernhaus los war, schon beim ersten Blick durch das Fenster, sogar mit siebzehn. Ich kam mir daher wie ein Idiot vor, als mir endlich aufging, warum diese Mädchen hier waren, wer sie so gut ernährte und dafür sorgte, dass genügend Brennholz unter dem Vordach aufgestapelt war.
    Die Blonde funkelte Kolja an, die Nasenflügel gebläht, die Haut unter den Sommersprossen gerötet.
    »Du ...«, sagte sie, und einen Moment lang konnte sie nicht weitersprechen, ihre Wut war zu groß, um in Worte gefasst zu werden. »Du kommst hier rein und verurteilst uns? Du, der Held der Roten Armee? Wo wart ihr denn, du und deine Armee? Als die Deutschen kamen und alles niedergebrannt haben, wo war da deine Armee? Sie haben meinen kleinen Bruder erschossen, meinen Vater, meinen Großvater, jeden einzelnen Mann im Dorf, während du und deine Freunde euch irgendwo verkrochen habt ... Und du kommst hierher und richtest deine Waffe auf mich?«
    »Ich richte meine Waffe doch auf niemand«, sagte Kolja. Für ihn war das eine seltsam kleinlaute Bemerkung, und ich wusste, dass er den Kampf schon verloren hatte.
    »Ich würde alles tun, um meine Schwester zu beschützen«, sagte sie mit einer Kopfbewegung in Richtung der pummeligen Brünetten. »Einfach alles. Ihr hättet uns beschützen müssen. Die glorreiche Rote Armee, die Verteidiger des Volkes! Wo wart ihr?«
    »Wir haben gegen sie gekämpft...«
    »Ihr könnt niemanden beschützen. Ihr habt uns im Stich gelassen. Leute wie wir, die nicht in der Stadt leben, die zählen einfach nicht, hab ich recht? Mit den Bauern können die Deutschen machen, was sie wollen! Hab ich recht?«
    »Die Hälfte der Männer in meiner Einheit starb beim ...«
    »Die Hälfte? Wenn ich der General wäre, würden alle meine Soldaten sterben, bevor wir einen einzigen Nazi in unser Land lassen!«
    »Tja«, sagte Kolja, und dann sagte er eine Weile gar nichts. Schließlich steckte er die Pistole ein. »Ich bin froh, dass du nicht der General bist.«
    14
    Trotz des schlechten Starts dauerte es nicht lange, bis wir mit den Mädchen Frieden schlossen. Wir brauchten uns gegenseitig. Sie hatten seit zwei Monaten mit keinem anderen Russen gesprochen, sie hatten kein Radio, und sie waren begierig darauf, das Neueste über den Krieg zu erfahren. Als sie von unseren Siegen vor Moskau hörten, lächelte Ga lina, die junge Brünette, ihre Schwester Nina an und nickte, als hätte sie das vorhergesagt. Die Mädchen fragten nach Leningrad, aber sie interessierten sich nicht dafür, wie viele Menschen im Dezember gestorben waren oder wie viel Brot auf Marken man inzwischen pro Monat zugeteilt bekam. Die kleinen Dörfer, aus denen sie stammten, hatten sogar noch mehr gelitten als Piter, und Berichte über die Not der noch immer unbesiegten Stadt langweilten sie nur. Stattdessen wollten sie wissen, ob der Winterpalast noch stand (ja), ob der Bronzene Reiter evakuiert worden war (nein) und ob ein bestimmtes Geschäft auf dem Newski-Prospekt, das angeblich berühmt war, weil es da die elegantesten Schuhe von ganz Russland gab, die Angriffe überdauert hatte (was weder Kolja noch ich wussten und uns auch nicht interessierte).
    Wir stellten den Mädchen nicht allzu viele Fragen. Wir wussten Bescheid, auch ohne die Einzelheiten zu kennen. Die Männer aus ihren Heimatgemeinden waren abgeschlachtet worden. Viele der jungen Frauen waren in den Westen geschickt worden, um in deutschen Fabriken Sklavenarbeit zu verrichten. Andere flohen Richtung Osten, legten zu Fuß Hunderte von Kilometern zurück, im Arm ihre Säuglinge und ihre Familienikonen, in der Hoffnung, schneller zu sein als die Wehrmacht. Die hübschesten Mädchen durften ihren Schwestern nicht nach Osten oder Westen folgen. Sie waren für das Vergnügen der Eroberer reserviert.
    Wir saßen alle vor dem offenen Feuer auf dem Boden. Unsere Socken und Handschuhe lagen auf dem Kaminsims, wurden

Weitere Kostenlose Bücher