David und Goliath
Figuren auf dem Schachbrett. Bei Legasthenikern verirren sich aus unerfindlichen Gründen einige dieser Neuronen und landen in der falschen Region. Das Gehirn hat ein System von Hohlräumen, die sogenannten Ventrikel, die unter anderem als eine Art Abfallbeseitigungssystem fungieren. Dort werden tote Zellen beseitigt. Bei manchen Menschen mit Lesestörungen stehen die Neuronen in den Ventrikeln Schlange wie Passagiere in einem Flughafen während der Sommerferien. 43
Um die Aktivität des Gehirns zu messen, werden Patienten in einen röhrenförmigen Scanner gelegt und lösen dort Aufgaben, während die Neurowissenschaftler auf einem Bildschirm beobachten, welche Regionen dabei aktiviert werden. Dort zeigt sich, dass bei Legasthenikern während des Lesens einige der Regionen, die eigentlich aktiv werden sollten, völlig dunkel bleiben. Das Bild erinnert ein wenig an die Luftaufnahme einer Stadt während eines nächtlichen Stromausfalls. Interessanterweise greifen Legastheniker beim Lesen sehr viel stärkerauf die rechte Gehirnhälfte zu als normale Leser. Die rechte Gehirnhälfte ist für das ganzheitliche Denken zuständig – genau die falsche Gehirnhälfte für eine Aufgabe wie das Lesen, das Präzision und Gründlichkeit verlangt. Manchmal scheint bei Legasthenikern die Aktivität verlangsamt, so als würden die verschiedenen am Lesen beteiligten Gehirnregionen über eine rauschende Verbindung miteinander kommunizieren. Um kleine Kinder auf eine Lese-Rechtschreib-Störung zu testen, lässt man sie daher rasch und automatisch Dinge benennen. Man zeigt ihnen beispielsweise eine Farbe nach der anderen – einen roten Punkt, einen grünen Punkt, einen blauen Punkt, schließlich einen gelben Punkt – und beobachtet die Reaktion. Sieh die Farbe. Erkenne die Farbe. Ordne der Farbe einen Namen zu. Sprich den Namen aus. Für die meisten Menschen ist das ein automatischer Prozess. Für Kinder mit Legasthenie dagegen nicht: Irgendwo auf dem Weg zwischen Sehen und Aussprechen treten Störungen auf. Fragen Sie ein vierjähriges Kind: Kannst du das Wort »Banane« ohne das »Ba« sagen? Hör dir diese drei Laute an: Ha, Uh, Te. Kannst Du daraus »Hut« machen? Oder »Hut«, »Mut« und »Mann« – welches dieser drei Wörter reimt sich nicht? Die meisten Vierjährigen können diese Fragen ohne Schwierigkeiten beantworten. Legastheniker jedoch haben mit so etwas zu kämpfen.
Legasthenie wird häufig als reine Lese- und Schreibschwäche missverstanden, oder man hört, Legastheniker würden Buchstaben vertauschen und »lieb« zum Beispiel als »leib« schreiben. Doch Legasthenie geht weit über eine Schreib- und Leseschwäche hinaus und hat viel allgemeiner damit zu tun, wie wir Laute hören und manipulieren. Der Unterschied zwischen zwei Lauten wie Ba und Da ist eine Kleinigkeit, die vier Hundertstelsekunden in Anspruch nimmt. Die menschliche Sprache basiert auf der Annahme, dass wir derart winzige Unterschiede erkennen, denn wenn wir dies nicht tun, verstehen wir vieles falsch oder gar nicht. Wie fühlt es sich an, ein Gehirn zu haben, das so viel Zeit zum Zusammensetzen der verschiedenen Wortbausteine benötigt, dass vier Hundertstelsekunden einfach zu wenig sind?
»Legastheniker haben keine Vorstellung von sprachlichen Lauten undsind verwirrt, wenn ein Laut oder ein Buchstabe verschwindet. So jemandem fällt es sehr schwer, Laute und Schrift zuzuordnen«, erklärt Nadine Gaab, Legasthenieforscherin an der Harvard University. »Die Kinder brauchen sehr lange, um lesen zu lernen. Und selbst dann lesen sie nur langsam, was wiederum den Sprachfluss unterbricht und das Verständnis erschwert. Und weil sie so lange brauchen, haben sie am Ende des Satzes den Anfang schon wieder vergessen. Deshalb haben diese Kinder in der Schule alle möglichen Probleme. Auch die anderen Fächer werden in Mitleidenschaft gezogen. Die Kinder können nicht lesen. Aber wie sollen sie eine Mathematikprüfung mit langen Textaufgaben bewältigen? Wie sollen sie einen Test in Gesellschaftskunde bestehen, wenn sie zwei Stunden brauchen, um zu verstehen, was von ihnen verlangt wird?«
Sie erklärt weiter: »In der Regel wird die Diagnose erst im Alter von acht oder neun Jahren gestellt. Aber bis dahin hat die Legasthenie schon weitreichende psychische Auswirkungen, denn zu diesem Zeitpunkt quälen sich die Kinder schon seit drei Jahren mit dem Problem herum. Wenn sie vier Jahre alt sind und in den Kindergarten gehen, sind sie beliebt und selbstbewusst.
Weitere Kostenlose Bücher